Kant: AA IV, Prolegomena zu einer jeden ... , Seite 341 |
|||||||
Zeile:
|
Text (Kant):
|
|
|
||||
01 | verborgen liegt*). Von zwei einander widersprechenden Sätzen können | ||||||
02 | nicht alle beide falsch sein, außer wenn der Begriff selbst widersprechend | ||||||
03 | ist, der beiden zum Grunde liegt; z. B. die zwei Sätze: ein viereckichter | ||||||
04 | Cirkel ist rund, und: ein viereckichter Cirkel ist nicht rund, sind beide falsch. | ||||||
05 | Denn was den ersten betrifft, so ist es falsch, daß der genannte Cirkel | ||||||
06 | rund sei, weil er viereckicht ist; es ist aber auch falsch, daß er nicht rund, | ||||||
07 | d. i. eckicht, sei, weil er ein Cirkel ist. Denn darin besteht eben das logische | ||||||
08 | Merkmal der Unmöglichkeit eines Begriffs, daß unter desselben Voraussetzung | ||||||
09 | zwei widersprechende Sätze zugleich falsch sein würden, mithin, | ||||||
10 | weil kein Drittes zwischen ihnen gedacht werden kann, durch jenen Begriff | ||||||
11 | gar nichts gedacht wird. | ||||||
12 | § 52 c. |
||||||
13 | Nun liegt den zwei ersteren Antinomien, die ich mathematische nenne, | ||||||
14 | weil sie sich mit der Hinzusetzung oder Theilung des Gleichartigen beschäftigen, | ||||||
15 | ein solcher widersprechender Begriff zum Grunde; und daraus erkläre | ||||||
16 | ich, wie es zugehe, daß Thesis sowohl als Antithesis bei beiden | ||||||
17 | falsch sind. | ||||||
18 | Wenn ich von Gegenständen in Zeit und Raum rede, so rede ich nicht | ||||||
19 | von Dingen an sich selbst, darum weil ich von diesen nichts weiß, sondern | ||||||
20 | nur von Dingen in der Erscheinung, d. i. von der Erfahrung als einer | ||||||
21 | besondern Erkenntnißart der Objecte, die dem Menschen allein vergönnt | ||||||
22 | ist. Was ich nun im Raume oder in der Zeit denke, von dem muß ich | ||||||
23 | nicht sagen: daß es an sich selbst, auch ohne diesen meinen Gedanken, im | ||||||
24 | Raume und der Zeit sei; denn da würde ich mir selbst widersprechen, weil | ||||||
25 | Raum und Zeit sammt den Erscheinungen in ihnen nichts an sich selbst | ||||||
26 | und außer meinen Vorstellungen Existirendes, sondern selbst nur Vorstellungsarten |
||||||
*) Ich wünsche daher, daß der kritische Leser sich mit dieser Antinomie hauptsächlich beschäftige, weil die Natur selbst sie aufgestellt zu haben scheint, um die Vernunft in ihren dreisten Anmaßungen stutzig zu machen und zur Selbstprüfung zu nöthigen. Jeden Beweis, den ich für die Thesis sowohl als Antithesis gegeben habe, mache ich mich anheischig zu verantworten und dadurch die Gewißheit der unvermeidlichen Antinomie der Vernunft darzuthun. Wenn der Leser nun durch diese seltsame Erscheinung dahin gebracht wird, zu der Prüfung der dabei zum Grunde liegenden Voraussetzung zurückzugehen, so wird er sich gezwungen fühlen, die erste Grundlage aller Erkenntniß der reinen Vernunft mit mir tiefer zu untersuchen. | |||||||
[ Seite 340 ] [ Seite 342 ] [ Inhaltsverzeichnis ] |