Kant: AA IV, Prolegomena zu einer jeden ... , Seite 340 |
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01 | dieses eben so gewöhnlich, ja ohne unsre Kritik unvermeidlich ist: so thut | ||||||
02 | sich ein nicht vermutheter Widerstreit hervor, der niemals auf dem gewöhnlichen, | ||||||
03 | dogmatischen Wege beigelegt werden kann, weil sowohl Satz als | ||||||
04 | Gegensatz durch gleich einleuchtende klare und unwiderstehliche Beweise | ||||||
05 | dargethan werden können - denn für die Richtigkeit aller dieser Beweise | ||||||
06 | verbürge ich mich -, und die Vernunft sich also mit sich selbst entzweit | ||||||
07 | sieht, ein Zustand, über den der Sceptiker frohlockt, der kritische Philosoph | ||||||
08 | aber in Nachdenken und Unruhe versetzt werden muß. | ||||||
09 | § 52 b. |
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10 | Man kann in der Metaphysik auf mancherlei Weise herumpfuschen, | ||||||
11 | ohne eben zu besorgen, daß man auf Unwahrheit werde betreten werden. | ||||||
12 | Denn wenn man sich nur nicht selbst widerspricht, welches in synthetischen, | ||||||
13 | obgleich gänzlich erdichteten Sätzen gar wohl möglich ist: so können wir in | ||||||
14 | allen solchen Fällen, wo die Begriffe, die wir verknüpfen, bloße Ideen | ||||||
15 | sind, die gar nicht (ihrem ganzen Inhalte nach) in der Erfahrung gegeben | ||||||
16 | werden können, niemals durch Erfahrung widerlegt werden. Denn | ||||||
17 | wie wollten wir es durch Erfahrung ausmachen: ob die Welt von Ewigkeit | ||||||
18 | her sei, oder einen Anfang habe; ob Materie ins Unendliche theilbar | ||||||
19 | sei, oder aus einfachen Theilen bestehe? Dergleichen Begriffe lassen sich | ||||||
20 | in keiner, auch der größtmöglichen Erfahrung geben, mithin die Unrichtigkeit | ||||||
21 | des behauptenden oder verneinenden Satzes durch diesen Probirstein | ||||||
22 | nicht entdecken. | ||||||
23 | Der einzige mögliche Fall, da die Vernunft ihre geheime Dialektik, | ||||||
24 | die sie fälschlich für Dogmatik ausgiebt, wider ihren Willen offenbarte, | ||||||
25 | wäre der, wenn sie auf einen allgemein zugestandnen Grundsatz eine | ||||||
26 | Behauptung gründete und aus einem andern, eben so beglaubigten mit | ||||||
27 | der größten Richtigkeit der Schlußart gerade das Gegentheil folgerte. | ||||||
28 | Dieser Fall ist hier nun wirklich und zwar in Ansehung vier natürlicher | ||||||
29 | Vernunftideen, woraus vier Behauptungen einerseits und eben so viel | ||||||
30 | Gegenbehauptungen andererseits, jede mit richtiger Consequenz aus allgemein | ||||||
31 | zugestandnen Grundsätzen entspringen und dadurch den dialektischen | ||||||
32 | Schein der reinen Vernunft im Gebrauch dieser Grundsätze offenbaren, | ||||||
33 | der sonst auf ewig verborgen sein müßte. | ||||||
34 | Hier ist also ein entscheidender Versuch, der uns nothwendig eine | ||||||
35 | Unrichigkeit entdecken muß, die in den Voraussetzungen der Vernunft | ||||||
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