Kant: AA IV, Prolegomena zu einer jeden ... , Seite 318 |
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Text (Kant):
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01 | § 36. |
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02 | Wie ist Natur selbst möglich? |
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03 | Diese Frage, welche der höchste Punkt ist, den transscendentale Philosophie | ||||||
04 | nur immer berühren mag, und zu welchem sie auch als ihrer | ||||||
05 | Grenze und Vollendung geführt werden muß, enthält eigentlich zwei | ||||||
06 | Fragen. | ||||||
07 | Erstlich: wie ist Natur in materieller Bedeutung, nämlich der | ||||||
08 | Anschauung nach, als der Inbegriff der Erscheinungen; wie ist Raum, | ||||||
09 | Zeit und das, was beide erfüllt, der Gegenstand der Empfindung, überhaupt | ||||||
10 | möglich? Die Antwort ist: vermittelst der Beschaffenheit unserer | ||||||
11 | Sinnlichkeit, nach welcher sie auf die ihr eigenthümliche Art von Gegenständen, | ||||||
12 | die ihr an sich selbst unbekannt und von jenen Erscheinungen | ||||||
13 | ganz unterschieden sind, gerührt wird. Die Beantwortung ist in dem Buche | ||||||
14 | selbst in der transscendentalen Ästhetik, hier aber in den Prolegomenen | ||||||
15 | durch die Auflösung der ersten Hauptfrage gegeben worden. | ||||||
16 | Zweitens: Wie ist Natur in formeller Bedeutung, als der Inbegriff | ||||||
17 | der Regeln, unter denen alle Erscheinungen stehen müssen, wenn sie in | ||||||
18 | einer Erfahrung als verknüpft gedacht werden sollen, möglich? Die Antwort | ||||||
19 | kann nicht anders ausfallen als: sie ist nur möglich vermittelst der | ||||||
20 | Beschaffenheit unseres Verstandes, nach welcher alle jene Vorstellungen | ||||||
21 | der Sinnlichkeit auf ein Bewußtsein nothwendig bezogen werden, und wodurch | ||||||
22 | allererst die eigenthümliche Art unseres Denkens, nämlich durch | ||||||
23 | Regeln, und vermittelst dieser die Erfahrung, welche von der Einsicht der | ||||||
24 | Objecte an sich selbst ganz zu unterscheiden ist, möglich ist. Diese Beantwortung | ||||||
25 | ist in dem Buche selbst in der transscendentalen Logik, hier aber | ||||||
26 | in den Prolegomenen in dem Verlauf der Auflösung der zweiten Hauptfrage | ||||||
27 | gegeben worden. | ||||||
28 | Wie aber diese eigenthümliche Eigenschaft unsrer Sinnlichkeit selbst, | ||||||
29 | oder die unseres Verstandes und der ihm und allem Denken zum Grunde | ||||||
30 | liegenden nothwendigen Apperception möglich sei, läßt sich nicht weiter | ||||||
31 | auflösen und beantworten, weil wir ihrer zu aller Beantwortung und zu | ||||||
32 | allem Denken der Gegenstände immer wieder nöthig haben. | ||||||
33 | Es sind viele Gesetze der Natur, die wir nur vermittelst der Erfahrung | ||||||
34 | wissen können; aber die Gesetzmäßigkeit in Verknüpfung der Erscheinungen, | ||||||
35 | d. i. die Natur überhaupt, können wir durch keine Erfahrung kennen lernen, | ||||||
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