Kant: AA IV, Prolegomena zu einer jeden ... , Seite 317

     
           
 

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Text (Kant):

 

 

 

 
  01 diese daher alle Gegenstände für unsere Begriffe enthalten müsse, außer      
  02 ihr aber alle Begriffe, da ihnen keine Anschauung unterlegt werden kann,      
  03 ohne Bedeutung sein werden.      
           
  04
§ 35.
     
           
  05 Es kann der Einbildungskraft vielleicht verziehen werden, wenn sie      
  06 bisweilen schwärmt, d. i. sich nicht behutsam innerhalb den Schranken der      
  07 Erfahrung hält; denn wenigstens wird sie durch einen solchen freien      
  08 Schwung belebt und gestärkt, und es wird immer leichter sein, ihre Kühnheit      
  09 zu mäßigen, als ihrer Mattigkeit aufzuhelfen. Daß aber der Verstand,      
  10 der denken soll, an dessen statt schwärmt, das kann ihm niemals      
  11 verziehen werden; denn auf ihm beruht allein alle Hülfe, um der Schwärmerei      
  12 der Einbildungskraft, wo es nöthig ist, Grenzen zu setzen.      
  13 Er fängt es aber hiemit sehr unschuldig und sittsam an. Zuerst bringt      
  14 er die Elementarerkenntnisse, die ihm vor aller Erfahrung beiwohnen, aber      
  15 dennoch in der Erfahrung immer ihre Anwendung haben müssen, ins      
  16 Reine. Allmählig läßt er diese Schranken weg, und was sollte ihn auch      
  17 daran hindern, da der Verstand ganz frei seine Grundsätze aus sich selbst      
  18 genommen hat? Und nun geht es zuerst auf neu erdachte Kräfte in der      
  19 Natur, bald hernach auf Wesen außerhalb der Natur, mit einem Wort      
  20 auf eine Welt, zu deren Einrichtung es uns an Bauzeug nicht fehlen kann,      
  21 weil es durch fruchtbare Erdichtung reichlich herbeigeschafft und durch Erfahrung      
  22 zwar nicht bestätigt, aber auch niemals widerlegt wird. Das ist      
  23 auch die Ursache, weswegen junge Denker Metaphysik in ächter dogmatischer      
  24 Manier so lieben und ihr oft ihre Zeit und ihr sonst brauchbares      
  25 Talent aufopfern.      
           
  26 Es kann aber gar nichts helfen, jene fruchtlose Versuche der reinen      
  27 Vernunft durch allerlei Erinnerungen wegen der Schwierigkeit der Auflösung      
  28 so tief verborgener Fragen, klagen über die Schranken unserer      
  29 Vernunft und Herabsetzung der Behauptungen auf bloße Muthmaßungen      
  30 mäßigen zu wollen. Denn wenn die Unmöglichkeit derselben nicht deutlich      
  31 dargethan worden, und die Selbsterkenntniß der Vernunft nicht      
  32 wahre Wissenschaft wird, worin das Feld ihres richtigen von dem ihres      
  33 nichtigen und fruchtlosen Gebrauchs, so zu sagen, mit geometrischer Gewißheit      
  34 unterschieden wird, so werden jene eitle Bestrebungen niemals      
  35 völlig abgestellt werden.      
           
           
     

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