Kant: AA IV, Prolegomena zu einer jeden ... , Seite 319 |
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01 | weil Erfahrung selbst solcher Gesetze bedarf, die ihrer Möglichkeit a priori | ||||||
02 | zum Grunde liegen. | ||||||
03 | Die Möglichkeit der Erfahrung überhaupt ist also zugleich das allgemeine | ||||||
04 | Gesetz der Natur, und die Grundsätze der erstern sind selbst die | ||||||
05 | Gesetze der letztern. Denn wir kennen Natur nicht anders als den Inbegriff | ||||||
06 | der Erscheinungen, d. i. der Vorstellungen in uns, und können daher | ||||||
07 | das Gesetz ihrer Verknüpfung nirgend anders als von den Grundsätzen | ||||||
08 | der Verknüpfung derselben in uns, d. i. den Bedingungen der nothwendigen | ||||||
09 | Vereinigung in einem Bewußtsein, welche die Möglichkeit der Erfahrung | ||||||
10 | ausmacht, hernehmen. | ||||||
11 | Selbst der Hauptsatz, der durch diesen ganzen Abschnitt ausgeführt | ||||||
12 | worden, daß allgemeine Naturgesetze a priori erkannt werden können, führt | ||||||
13 | schon von selbst auf den Satz: daß die oberste Gesetzgebung der Natur in | ||||||
14 | uns selbst, d. i. in unserm Verstande, liegen müsse, und daß wir die allgemeinen | ||||||
15 | Gesetze derselben nicht von der Natur vermittelst der Erfahrung, | ||||||
16 | sondern umgekehrt die Natur ihrer allgemeinen Gesetzmäßigkeit nach blos | ||||||
17 | aus den in unserer Sinnlichkeit und dem Verstande liegenden Bedingungen | ||||||
18 | der Möglichkeit der Erfahrung suchen müssen; denn wie wäre es | ||||||
19 | sonst möglich, diese Gesetze, da sie nicht etwa Regeln der analytischen Erkenntniß, | ||||||
20 | sondern wahrhafte synthetische Erweiterungen derselben sind, | ||||||
21 | a priori zu kennen? Eine solche und zwar nothwendige Übereinstimmung | ||||||
22 | der Principien möglicher Erfahrung mit den Gesetzen der Möglichkeit der | ||||||
23 | Natur kann nur aus zweierlei Ursachen stattfinden: entweder diese Gesetze | ||||||
24 | werden von der Natur vermittelst der Erfahrung entlehnt, oder umgekehrt, | ||||||
25 | die Natur wird von den Gesetzen der Möglichkeit der Erfahrung überhaupt | ||||||
26 | abgeleitet und ist mit der bloßen allgemeinen Gesetzmäßigkeit der letzteren | ||||||
27 | völlig einerlei. Das erstere widerspricht sich selbst, denn die allgemeinen | ||||||
28 | Naturgesetze können und müssen a priori (d. i. unabhängig von aller Erfahrung) | ||||||
29 | erkannt und allem empirischen Gebrauche des Verstandes zum | ||||||
30 | Grunde gelegt werden; also bleibt nur das zweite übrig.*) | ||||||
*) Crusius allein wußte einen Mittelweg: daß nämlich ein Geist, der nicht irren noch betrügen kann, uns diese Naturgesetze ursprünglich eingepflanzt habe. Allein da sich doch oft auch trügliche Grundsätze einmischen, wovon das System dieses Mannes selbst nicht wenig Beispiele giebt, so sieht es bei dem Mangel sicherer Kriterien, den ächten Ursprung von dem unächten zu unterscheiden, mit dem Gebrauche eines solchen Grundsatzes sehr mißlich aus, indem man niemals sicher wissen kann, was der Geist der Wahrheit oder der Vater der Lügen uns eingeflößt haben möge. | |||||||
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