Kant: AA IV, Prolegomena zu einer jeden ... , Seite 286

     
           
 

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Text (Kant):

 

 

 

 
  01 wenn er allein und zugleich vollständig beschrieben wird, nichts angetroffen      
  02 wird, was nicht zugleich in der Beschreibung des andern läge, und dennoch      
  03 kann einer nicht an die Stelle des andern (nämlich auf dem entgegengesetzten      
  04 Hemisphär) gesetzt werden; und hier ist denn doch eine innere Verschiedenheit      
  05 beider Triangel, die kein Verstand als innerlich angeben kann,      
  06 und die sich nur durch das äußere Verhältniß im Raume offenbart. Allein      
  07 ich will gewöhnlichere Fälle anführen, die aus dem gemeinen Leben genommen      
  08 werden können.      
           
  09 Was kann wohl meiner Hand oder meinem Ohr ähnlicher und in      
  10 allen Stücken gleicher sein, als ihr Bild im Spiegel? Und dennoch kann      
  11 ich eine solche Hand, als im Spiegel gesehen wird, nicht an die Stelle      
  12 ihres Urbildes setzen; denn wenn dieses eine rechte Hand war, so ist jene      
  13 im Spiegel eine linke, und das Bild des rechten Ohres ist ein linkes, das      
  14 nimmermehr die Stelle des ersteren vertreten kann. Nun sind hier keine      
  15 innere Unterschiede, die irgend ein Verstand nur denken könnte; und dennoch      
  16 sind die Unterschiede innerlich, so weit die Sinne lehren, denn die linke      
  17 Hand kann mit der rechten unerachtet aller beiderseitigen Gleichheit und      
  18 Ähnlichkeit doch nicht zwischen denselben Grenzen eingeschlossen sein (sie      
  19 können nicht congruiren); der Handschuh der einen Hand kann nicht auf      
  20 der andern gebraucht werden. Was ist nun die Auflösung? Diese Gegenstände      
  21 sind nicht etwa Vorstellungen der Dinge, wie sie an sich selbst sind,      
  22 und wie sie der pure Verstand erkennen würde, sondern es sind sinnliche      
  23 Anschauungen, d. i. Erscheinungen, deren Möglichkeit auf dem Verhältnisse      
  24 gewisser an sich unbekannten Dinge zu etwas anderem, nämlich unserer      
  25 Sinnlichkeit, beruht. Von dieser ist nun der Raum die Form der      
  26 äußern Anschauung, und die innere Bestimmung eines jeden Raumes ist      
  27 nur durch die Bestimmung des äußeren Verhältnisses zu dem ganzen      
  28 Raume, davon jener ein Theil ist (dem Verhältnisse zum äußeren Sinne),      
  29 d. i. der Theil ist nur durchs Ganze möglich, welches bei Dingen an sich      
  30 selbst als Gegenständen des bloßen Verstandes niemals, wohl aber bei      
  31 bloßen Erscheinungen stattfindet. Wir können daher auch den Unterschied      
  32 ähnlicher und gleicher, aber doch incongruenter Dinge (z. B. widersinnig      
  33 gewundener Schnecken) durch keinen einzigen Begriff verständlich machen,      
  34 sondern nur durch das Verhältniß zur rechten und linken Hand, welches      
  35 unmittelbar auf Anschauung geht.      
           
           
     

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