Kant: AA IV, Prolegomena zu einer jeden ... , Seite 285 |
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Text (Kant):
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01 | und zwar reiner a priori, weil er apodiktisch gewiß ist; daß man verlangen | ||||||
02 | kann, eine Linie solle ins Unendliche gezogen ( in indefinitum ), oder eine | ||||||
03 | Reihe Veränderungen (z. B. durch Bewegung zurückgelegte Räume) solle | ||||||
04 | ins Unendliche fortgesetzt werden, setzt doch eine Vorstellung des Raumes | ||||||
05 | und der Zeit voraus, die blos an der Anschauung hängen kann, nämlich | ||||||
06 | so fern sie an sich durch nichts begrenzt ist; denn aus Begriffen könnte sie | ||||||
07 | nie geschlossen werden. Also liegen doch wirklich der Mathematik reine | ||||||
08 | Anschauungen a priori zum Grunde, welche ihre synthetische und apodiktisch | ||||||
09 | geltende Sätze möglich machen; und daher erklärt unsere transscendentale | ||||||
10 | Deduction der Begriffe im Raum und Zeit zugleich die Möglichkeit | ||||||
11 | einer reinen Mathematik, die ohne eine solche Deduction, und ohne | ||||||
12 | daß wir annehmen, "alles, was unsern Sinnen gegeben werden mag (den | ||||||
13 | äußeren im Raume, dem inneren in der Zeit), werde von uns nur angeschauet, | ||||||
14 | wie es uns erscheint, nicht wie es an sich selbst ist," zwar eingeräumt, | ||||||
15 | aber keineswegs eingesehen werden könnte. | ||||||
16 | § 13. |
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17 | Diejenigen, welche noch nicht von dem Begriffe loskommen können, | ||||||
18 | als ob Raum und Zeit wirkliche Beschaffenheiten wären, die den Dingen | ||||||
19 | an sich selbst anhingen, können ihre Scharfsinnigkeit an folgendem Paradoxon | ||||||
20 | üben und, wenn sie dessen Auflösung vergebens versucht haben, | ||||||
21 | wenigstens auf einige Augenblicke von Vorurtheilen frei, vermuthen, daß | ||||||
22 | doch vielleicht die Abwürdigung des Raumes und der Zeit zu bloßen | ||||||
23 | Formen unsrer sinnlichen Anschauung Grund haben möge. | ||||||
24 | Wenn zwei Dinge in allen Stücken, die an jedem für sich nur immer | ||||||
25 | können erkannt werden, (in allen zur Größe und Qualität gehörigen Bestimmungen) | ||||||
26 | völlig einerlei sind, so muß doch folgen, daß eins in allen | ||||||
27 | Fällen und Beziehungen an die Stelle des andern könne gesetzt werden, | ||||||
28 | ohne daß diese Vertauschung den mindesten kenntlichen Unterschied verursachen | ||||||
29 | würde. In der That verhält sich dies auch so mit ebenen Figuren | ||||||
30 | in der Geometrie; allein verschiedene sphärische zeigen unerachtet jener | ||||||
31 | völligen innern Übereinstimmung doch eine solche Verschiedenheit im äußeren | ||||||
32 | Verhältniß, daß sich eine an die Stelle der andern gar nicht setzen | ||||||
33 | läßt; z. B. zwei sphärische Triangel von beiden Hemisphären, die einen | ||||||
34 | Bogen des Äquators zur gemeinschaftlichen Basis haben, können völlig | ||||||
35 | gleich sein in Ansehung der Seiten sowohl als Winkel, so daß an keinem, | ||||||
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