Kant: AA IV, Prolegomena zu einer jeden ... , Seite 284

     
           
 

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Text (Kant):

 

 

 

 
  01 empirischer Anschauung eine reine Anschauung (des Raums und der Zeit)      
  02 und zwar a priori zum Grunde liegt und darum zum Grunde liegen kann,      
  03 weil diese nichts anders als die bloße Form der Sinnlichkeit ist, welche      
  04 vor der wirklichen Erscheinung der Gegenstände vorhergeht, indem sie dieselbe      
  05 in der That allererst möglich macht. Doch betrifft dieses Vermögen,      
  06 a priori anzuschauen, nicht die Materie der Erscheinung, d. i. das, was      
  07 in ihr Empfindung ist, denn diese macht das Empirische aus, sondern nur      
  08 die Form derselben, Raum und Zeit. Wollte man im mindesten daran      
  09 zweifeln, daß beide gar keine den Dingen an sich selbst, sondern nur bloße      
  10 ihrem Verhältnisse zur Sinnlichkeit anhängende Bestimmungen sind, so      
  11 möchte ich gerne wissen, wie man es möglich finden kann, a priori und      
  12 also vor aller Bekanntschaft mit den Dingen, ehe sie nämlich uns gegeben      
  13 sind, zu wissen, wie ihre Anschauung beschaffen sein müsse, welches doch      
  14 hier der Fall mit Raum und Zeit ist. Dieses ist aber ganz begreiflich, so      
  15 bald beide für nichts weiter als formale Bedingungen unserer Sinnlichkeit,      
  16 die Gegenstände aber blos für Erscheinungen gelten; denn alsdann      
  17 kann die Form der Erscheinung, d. i. die reine Anschauung, allerdings      
  18 aus uns selbst, d. i. a priori, vorgestellt werden.      
           
  19
§ 12.
     
           
  20 Um etwas zur Erläuterung und Bestätigung beizufügen, darf man      
  21 nur das gewöhnliche und unumgänglich nothwendige Verfahren der Geometern      
  22 ansehen. Alle Beweise von durchgängiger Gleichheit zweier gegebenen      
  23 Figuren (da eine in allen Stücken an die Stelle der andern gesetzt      
  24 werden kann) laufen zuletzt darauf hinaus, daß sie einander decken, welches      
  25 offenbar nichts anders als ein auf der unmittelbaren Anschauung beruhender      
  26 synthetischer Satz ist; und diese Anschauung muß rein und      
  27 a priori gegeben werden, denn sonst könnte jener Satz nicht für apodiktisch      
  28 gewiß gelten, sondern hätte nur empirische Gewißheit. Es würde nur      
  29 heißen: man bemerkt es jederzeit so, und er gilt nur so weit, als unsre      
  30 Wahrnehmung bis dahin sich erstreckt hat. Daß der vollständige Raum      
  31 (der selbst keine Grenze eines anderen Raumes mehr ist) drei Abmessungen      
  32 habe, und Raum überhaupt auch nicht mehr derselben haben könne, wird      
  33 auf den Satz gebaut, daß sich in einem Punkte nicht mehr als drei Linien      
  34 rechtwinklicht schneiden können; dieser Satz aber kann gar nicht aus Begriffen      
  35 dargethan werden, sondern beruht unmittelbar auf Anschauung      
           
     

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