Kant: AA IV, Prolegomena zu einer jeden ... , Seite 283 |
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Text (Kant):
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01 | § 10. |
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02 | Also ist es nur die Form der sinnlichen Anschauung, dadurch wir | ||||||
03 | a priori Dinge anschauen können, wodurch wir aber auch die Objecte nur | ||||||
04 | erkennen, wie sie uns (unsern Sinnen) erscheinen können, nicht wie sie | ||||||
05 | an sich sein mögen; und diese Voraussetzung ist schlechterdings nothwendig, | ||||||
06 | wenn synthetische Sätze a priori als möglich eingeräumt, oder, im | ||||||
07 | Falle sie wirklich angetroffen werden, ihre Möglichkeit begriffen und zum | ||||||
08 | voraus bestimmt werden soll. | ||||||
09 | Nun sind Raum und Zeit diejenigen Anschauungen, welche die reine | ||||||
10 | Mathematik allen ihren Erkenntnissen und Urtheilen, die zugleich als apodiktisch | ||||||
11 | und nothwendig auftreten, zum Grunde legt; denn Mathematik | ||||||
12 | muß alle ihre Begriffe zuerst in der Anschauung und reine Mathematik | ||||||
13 | in der reinen Anschauung darstellen, d. i. sie construiren, ohne welche | ||||||
14 | (weil sie nicht analytisch, nämlich durch Zergliederung der Begriffe, sondern | ||||||
15 | synthetisch verfahren kann) es ihr unmöglich ist, einen Schritt zu | ||||||
16 | thun, so lange ihr nämlich reine Anschauung fehlt, in der allein der Stoff | ||||||
17 | zu synthetischen Urtheilen a priori gegeben werden kann. Geometrie legt | ||||||
18 | die reine Anschauung des Raums zum Grunde. Arithmetik bringt selbst | ||||||
19 | ihre Zahlbegriffe durch successive Hinzusetzung der Einheiten in der Zeit | ||||||
20 | zu Stande, vornehmlich aber reine Mechanik kann ihre Begriffe von Bewegung | ||||||
21 | nur vermittelst der Vorstellung der Zeit zu Stande bringen. | ||||||
22 | Beide Vorstellungen aber sind blos Anschauungen; denn wenn man von | ||||||
23 | den empirischen Anschauungen der Körper und ihrer Veränderungen (Bewegung) | ||||||
24 | alles Empirische, nämlich was zur Empfindung gehört, wegläßt, | ||||||
25 | so bleiben noch Raum und Zeit übrig, welche also reine Anschauungen | ||||||
26 | sind, die jenen a priori zum Grunde liegen und daher selbst niemals weggelassen | ||||||
27 | werden können, aber eben dadurch, daß sie reine Anschauungen | ||||||
28 | a priori sind, beweisen, daß sie bloße Formen unserer Sinnlichkeit sind, | ||||||
29 | die vor aller empirischen Anschauung, d. i. der Wahrnehmung wirklicher | ||||||
30 | Gegenstände, vorhergehen müssen, und denen gemäß Gegenstände a priori | ||||||
31 | erkannt werden können, aber freilich nur, wie sie uns erscheinen. | ||||||
32 | § 11. |
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33 | Die Aufgabe des gegenwärtigen Abschnitts ist also aufgelöset. Reine | ||||||
34 | Mathematik ist als synthetische Erkenntniß a priori nur dadurch möglich, | ||||||
35 | daß sie auf keine andere als bloße Gegenstände der Sinne geht, deren | ||||||
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