Kant: AA IV, Kritik der reinen Vernunft ... , Seite 119 |
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Text (Kant):
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| 01 | Wenn alle Realität in der Wahrnehmung einen Grad hat, zwischen | ||||||
| 02 | dem und der Negation eine unendliche Stufenfolge immer minderer Grade | ||||||
| 03 | statt findet, und gleichwohl ein jeder Sinn einen bestimmten Grad der | ||||||
| 04 | Receptivität der Empfindungen haben muß: so ist keine Wahrnehmung, | ||||||
| 05 | mithin auch keine Erfahrung möglich, die einen gänzlichen Mangel alles | ||||||
| 06 | Realen in der Erscheinung, es sei unmittelbar oder mittelbar (durch welchen | ||||||
| 07 | Umschweif im Schließen als man immer wolle), bewiese, d. i. es kann aus | ||||||
| 08 | der Erfahrung niemals ein Beweis vom leeren Raume oder einer leeren | ||||||
| 09 | Zeit gezogen werden. Denn der gänzliche Mangel des Realen in der sinnlichen | ||||||
| 10 | Anschauung kann erstlich selbst nicht wahrgenommen werden, zweitens | ||||||
| 11 | kann er aus keiner einzigen Erscheinung und dem Unterschiede des Grades | ||||||
| 12 | ihrer Realität gefolgert, oder darf auch zur Erklärung derselben niemals | ||||||
| 13 | angenommen werden. Denn wenn auch die ganze Anschauung eines bestimmten | ||||||
| 14 | Raumes oder Zeit durch und durch real, d. i. kein Theil derselben | ||||||
| 15 | leer ist: so muß es doch, weil jede Realität ihren Grad hat, der bei | ||||||
| 16 | unveränderter extensiven Größe der Erscheinung bis zum Nichts (dem | ||||||
| 17 | Leeren) durch unendliche Stufen abnehmen kann, unendlich verschiedene | ||||||
| 18 | Grade, mit welchen Raum oder Zeit erfüllt sind, geben und die intensive | ||||||
| 19 | Größe in verschiedenen Erscheinungen kleiner oder größer sein können, obschon | ||||||
| 20 | die extensive Größe der Anschauung gleich ist. | ||||||
| 21 | Wir wollen ein Beispiel davon geben. Beinahe alle Naturlehrer, da | ||||||
| 22 | sie einen großen Unterschied der Quantität der Materie von verschiedener | ||||||
| 23 | Art unter gleichem Volumen (theils durch das Moment der Schwere oder | ||||||
| 24 | des Gewichts, theils durch das Moment des Widerstandes gegen andere | ||||||
| 25 | bewegte Materien) wahrnehmen, schließen daraus einstimmig: dieses | ||||||
| 26 | Volumen (extensive Größe der Erscheinung) müsse in allen Materien, obzwar | ||||||
| 27 | in verschiedenem Maße leer sein. Wer hätte aber von diesen größtentheils | ||||||
| 28 | mathematischen und mechanischen Naturforschern sich wohl jemals | ||||||
| 29 | einfallen lassen, daß sie diesen ihren Schluß lediglich auf eine metaphysische | ||||||
| 30 | Voraussetzung, welche sie doch so sehr zu vermeiden vorgeben, gründeten, | ||||||
| 31 | indem sie annehmen, daß das Reale im Raume (ich mag es hier | ||||||
| 32 | nicht Undurchdringlichkeit oder Gewicht nennen, weil dieses empirische | ||||||
| 33 | Begriffe sind) allerwärts einerlei sei und sich nur der extensiven Größe, | ||||||
| 34 | d. i. der Menge, nach unterscheiden könne. Dieser Voraussetzung, dazu | ||||||
| 35 | sie keinen Grund in der Erfahrung haben konnten, und die also blos metaphysisch | ||||||
| 36 | ist, setze ich einen transscendentalen Beweis entgegen, der zwar | ||||||
| 37 | den Unterschied in der Erfüllung der Räume nicht erklären soll, aber doch | ||||||
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