Kant: AA IV, Kritik der reinen Vernunft ... , Seite 018 |
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01 | die gänzlich a priori, unabhängig von der Erfahrung entstanden sein | ||||||
02 | müssen, weil sie machen, daß man von den Gegenständen, die den Sinnen | ||||||
03 | erscheinen, mehr sagen kann, wenigstens es sagen zu können glaubt, als | ||||||
04 | bloße Erfahrung lehren würde, und daß Behauptungen wahre Allgemeinheit | ||||||
05 | und strenge Nothwendigkeit enthalten, dergleichen die blos empirische | ||||||
06 | Erkenntniß nicht liefern kann. | ||||||
07 | Was aber noch weit mehr sagen will, ist dieses, daß gewisse Erkenntnisse | ||||||
08 | sogar das Feld aller möglichen Erfahrungen verlassen und durch | ||||||
09 | Begriffe, denen überall kein entsprechender Gegenstand in der Erfahrung | ||||||
10 | gegeben werden kann, den Umfang unserer Urtheile über alle Grenzen derselben | ||||||
11 | zu erweitern den Anschein haben. | ||||||
12 | Und gerade in diesen letzteren Erkenntnissen, welche über die Sinnenwelt | ||||||
13 | hinausgehen, wo Erfahrung gar keinen Leitfaden noch Berichtigung | ||||||
14 | geben kann, liegen die Nachforschungen unsrer Vernunft, die wir der Wichtigkeit | ||||||
15 | nach für weit vorzüglicher und ihre Endabsicht für viel erhabener | ||||||
16 | halten, als alles, was der Verstand im Felde der Erscheinungen lernen | ||||||
17 | kann, wobei wir sogar auf die Gefahr zu irren eher alles wagen, als daß | ||||||
18 | wir so angelegene Untersuchungen aus irgend einem Grunde der Bedenklichkeit | ||||||
19 | oder aus Geringschätzung und Gleichgültigkeit aufgeben sollten. | ||||||
20 | Nun scheint es zwar natürlich, daß, so bald man den Boden der Erfahrung | ||||||
21 | verlassen hat, man doch nicht mit Erkenntnissen, die man besitzt, | ||||||
22 | ohne zu wissen woher, und auf den Credit der Grundsätze, deren Ursprung | ||||||
23 | man nicht kennt, sofort ein Gebäude errichten werde, ohne der Grundlegung | ||||||
24 | desselben durch sorgfältige Untersuchungen vorher versichert zu sein, | ||||||
25 | daß man also die Frage vorlängst werde aufgeworfen haben, wie denn | ||||||
26 | der Verstand zu allen diesen Erkenntnissen a priori kommen könne, und | ||||||
27 | welchen Umfang, Gültigkeit und Werth sie haben mögen. In der Tat | ||||||
28 | ist auch nichts natürlicher, wenn man unter diesem Wort das versteht, | ||||||
29 | was billiger und vernünftiger Weise geschehen sollte; versteht man aber | ||||||
30 | darunter das, was gewöhnlicher Maßen geschieht, so ist hinwiederum | ||||||
31 | nichts natürlicher und begreiflicher, als daß diese Untersuchung lange Zeit | ||||||
32 | unterbleiben mußte. Denn ein Theil dieser Erkenntnisse, die mathematische, | ||||||
33 | ist im alten Besitze der Zuverlässigkeit und giebt dadurch eine günstige | ||||||
34 | Erwartung auch für andere, ob diese gleich von ganz verschiedener | ||||||
35 | Natur sein mögen. Überdem wenn man über den Kreis der Erfahrung | ||||||
36 | hinaus ist, so ist man sicher, durch Erfahrung nicht widersprochen zu | ||||||
37 | werden. Der Reiz, seine Erkenntnisse zu erweitern, ist so groß, daß man | ||||||
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