Kant: AA IV, Kritik der reinen Vernunft ... , Seite 019 |
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01 | nur durch einen klaren Widerspruch, auf den man stößt, in seinem Fortschritt | ||||||
02 | aufgehalten werden kann. Dieser aber kann vermieden werden, | ||||||
03 | wenn man seine Erdichtungen behutsam macht, ohne daß sie deswegen | ||||||
04 | weniger Erdichtungen bleiben. Die Mathematik gibt uns ein glänzendes | ||||||
05 | Beispiel, wie weit wir es unabhängig von der Erfahrung in der Erkenntniß | ||||||
06 | a priori bringen können. Nun beschäftigt sie sich zwar mit Gegenständen | ||||||
07 | und Erkenntnissen blos so weit, als sich solche in der Anschauung | ||||||
08 | darstellen lassen. Aber dieser Umstand wird leicht übersehen, weil gedachte | ||||||
09 | Anschauung selbst a priori gegeben werden kann, mithin von einem bloßen | ||||||
10 | reinen Begriff kaum unterschieden wird. Durch einen solchen Beweis von | ||||||
11 | der Macht der Vernunft aufgemuntert, sieht der Trieb zur Erweiterung | ||||||
12 | keine Grenzen. Die leichte Taube, indem sie im freien Fluge die Luft | ||||||
13 | theilt, deren Widerstand sie fühlt, könnte die Vorstellung fassen, daß es | ||||||
14 | ihr im luftleeren Raum noch viel besser gelingen werde. Eben so verlie | ||||||
15 | Plato die Sinnenwelt, weil sie dem Verstande so vielfältige Hindernisse | ||||||
16 | legt, und wagte sich jenseit derselben auf den Flügeln der Ideen in den | ||||||
17 | leeren Raum des reinen Verstandes. Er bemerkte nicht, daß er durch seine | ||||||
18 | Bemühungen keinen Weg gewönne, denn er hatte keinen Widerhalt gleichsam | ||||||
19 | zur Unterlage, worauf er sich steifen und woran er seine Kräfte anwenden | ||||||
20 | konnte, um den Verstand von der Stelle zu bringen. Es ist aber | ||||||
21 | ein gewöhnliches Schicksal der menschlichen Vernunft in der Speculation | ||||||
22 | ihr Gebäude so früh wie möglich fertig zu machen und hintennach allererst | ||||||
23 | zu untersuchen, ob auch der Grund dazu gut gelegt sei. Alsdann aber | ||||||
24 | werden allerlei Beschönigungen herbei gesucht, um uns wegen dessen Tüchtigkeit | ||||||
25 | zu trösten, oder eine solche späte und gefährliche Prüfung abzuweisen. | ||||||
26 | Was uns aber während dem Bauen von aller Besorgniß und | ||||||
27 | Verdacht frei hält und mit scheinbarer Gründlichkeit schmeichelt, ist dieses. | ||||||
28 | Ein großer Theil und vielleicht der größte von dem Geschäfte unserer Vernunft | ||||||
29 | besteht in Zergliederungen der Begriffe, die wir schon von Gegenständen | ||||||
30 | haben. Dieses liefert uns eine Menge von Erkenntnissen, die, ob | ||||||
31 | sie gleich nichts weiter als Aufklärungen oder Erläuterungen desjenigen | ||||||
32 | sind, was in unsern Begriffen (wiewohl noch auf verworrne Art) schon | ||||||
33 | gedacht worden, doch wenigstens der Form nach neuen Einsichten gleich | ||||||
34 | geschätzt werden, wiewohl sie der Materie oder dem Inhalte nach die Begriffe, | ||||||
35 | die wir haben, nicht erweitern, sondern nur aus einander setzen. | ||||||
36 | Da dieses Verfahren nun eine wirkliche Erkenntniß a priori giebt, die | ||||||
37 | einen sichern und nützlichen Fortgang hat, so erschleicht die Vernunft, ohne | ||||||
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