Kant: AA III, Kritik der reinen Vernunft ... , Seite 333

     
           
 

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Text (Kant):

 

 

 

 
  01 weil die Naturerscheinungen Gegenstände sind, die uns unabhängig von      
  02 unseren Begriffen gegeben werden, zu denen also der Schlüssel nicht in      
  03 uns und unserem reinen Denken, sondern außer uns liegt und eben darum      
  04 in vielen Fällen nicht aufgefunden, mithin kein sicherer Aufschluß erwartet      
  05 werden kann. Ich rechne die Fragen der transscendentalen Analytik,      
  06 welche die Deduction unserer reinen Erkenntniß betreffen, nicht hieher,      
  07 weil wir jetzt nur von der Gewißheit der Urtheile in Ansehung der Gegenstände      
  08 und nicht in Ansehung des Ursprungs unserer Begriffe selbst handeln.      
           
  09 Wir werden also der Verbindlichkeit einer wenigstens kritischen Auflösung      
  10 der vorgelegten Vernunftfragen dadurch nicht ausweichen können,      
  11 daß wir über die engen Schranken unserer Vernunft Klagen erheben und      
  12 mit dem Scheine einer demuthsvollen Selbsterkenntniß bekennen, es sei      
  13 über unsere Vernunft, auszumachen, ob die Welt von Ewigkeit her sei,      
  14 oder einen Anfang habe; ob der Weltraum ins Unendliche mit Wesen erfüllt,      
  15 oder innerhalb gewisser Grenzen eingeschlossen sei; ob irgend in der      
  16 Welt etwas einfach sei, oder ob alles ins Unendliche getheilt werden müsse;      
  17 ob es eine Erzeugung und Hervorbringung aus Freiheit gebe, oder ob alles      
  18 an der Kette der Naturordnung hänge; endlich ob es irgend ein gänzlich      
  19 unbedingt und an sich nothwendiges Wesen gebe, oder ob alles seinem      
  20 Dasein nach bedingt und mithin äußerlich abhängend und an sich zufällig      
  21 sei. Denn alle diese Fragen betreffen einen Gegenstand, der nirgend anders      
  22 als in unseren Gedanken gegeben werden kann, nämlich die schlechthin      
  23 unbedingte Totalität der Synthesis der Erscheinungen. Wenn wir      
  24 darüber aus unseren eigenen Begriffen nichts Gewisses sagen und ausmachen      
  25 können, so dürfen wir nicht die Schuld auf die Sache schieben, die      
  26 sich uns verbirgt; denn es kann uns dergleichen Sache (weil sie außer      
  27 unserer Idee nirgends angetroffen wird) gar nicht gegeben werden, sondern      
  28 wir müssen die Ursache in unserer Idee selbst suchen, welche ein Problem      
  29 ist, das keine Auflösung verstattet, und wovon wir doch hartnäckig annehmen,      
  30 als entspreche ihr ein wirklicher Gegenstand. Eine deutliche Darlegung      
  31 der Dialektik, die in unserem Begriffe selbst liegt, würde uns bald      
  32 zur völligen Gewißheit bringen von dem, was wir in Ansehung einer      
  33 solchen Frage zu urtheilen haben.      
           
  34 Man kann eurem Vorwande der Ungewißheit in Ansehung dieser      
  35 Probleme zuerst diese Frage entgegensetzen, die ihr wenigstens deutlich      
  36 beantworten müsset: Woher kommen euch die Ideen, deren Auflösung euch      
  37 hier in solche Schwierigkeit verwickelt? Sind es etwa Erscheinungen,      
           
     

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