Kant: AA III, Kritik der reinen Vernunft ... , Seite 334

     
           
 

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Text (Kant):

 

 

 

 
  01 deren Erklärung ihr bedürft, und wovon ihr zufolge dieser Ideen nur die      
  02 Principien, oder die Regel ihrer Exposition zu suchen habt? Nehmet an,      
  03 die Natur sei ganz vor euch aufgedeckt; euren Sinnen und dem Bewußtsein      
  04 alles dessen, was eurer Anschauung vorgelegt ist, sei nichts verborgen:      
  05 so werdet ihr doch durch keine einzige Erfahrung den Gegenstand eurer      
  06 Ideen in concreto erkennen können (denn es wird außer dieser vollständigen      
  07 Anschauung noch eine vollendete Synthesis und das Bewußtsein ihrer      
  08 absoluten Totalität erfordert, welches durch gar kein empirisches Erkenntniß      
  09 möglich ist); mithin kann eure Frage keinesweges zur Erklärung von      
  10 irgend einer vorkommenden Erscheinung nothwendig und also gleichsam      
  11 durch den Gegenstand selbst aufgegeben sein. Denn der Gegenstand kann      
  12 euch niemals vorkommen, weil er durch keine mögliche Erfahrung gegeben      
  13 werden kann. Ihr bleibt mit allen möglichen Wahrnehmungen immer      
  14 unter Bedingungen, es sei im Raume oder in der Zeit, befangen und      
  15 kommt an nichts Unbedingtes, um auszumachen, ob dieses Unbedingte in      
  16 einem absoluten Anfange der Synthesis, oder einer absoluten Totalität      
  17 der Reihe ohne allen Anfang zu setzen sei. Das All aber in empirischer      
  18 Bedeutung ist jederzeit nur comparativ. Das absolute All der Größe (das      
  19 Weltall), der Theilung, der Abstammung, der Bedingung des Daseins      
  20 überhaupt mit allen Fragen, ob es durch endliche oder ins Unendliche fortzusetzende      
  21 Synthesis zu Stande zu bringen sei, geht keine mögliche Erfahrung      
  22 etwas an. Ihr würdet z. B. die Erscheinungen eines Körpers nicht      
  23 im mindesten besser oder auch nur anders erklären können, ob ihr annehmet,      
  24 er bestehe aus einfachen, oder durchgehends immer aus zusammengesetzten      
  25 Theilen; denn es kann euch keine einfache Erscheinung und eben      
  26 so wenig auch eine unendliche Zusammensetzung jemals vorkommen. Die      
  27 Erscheinungen verlangen nur erklärt zu werden, so weit ihre Erklärungsbedingungen      
  28 in der Wahrnehmung gegeben sind, alles aber, was jemals      
  29 an ihnen gegeben werden mag, in einem absoluten Ganzen zusammengenommen,      
  30 ist selbst keine Wahrnehmung. Dieses All aber ist es eigentlich,      
  31 dessen Erklärung in den transscendentalen Vernunftaufgaben gefordert wird.      
           
  32 Da also selbst die Auflösung dieser Aufgaben niemals in der Erfahrung      
  33 vorkommen kann, so könnet ihr nicht sagen, daß es ungewiß sei, was      
  34 hierüber dem Gegenstande beizulegen sei. Denn euer Gegenstand ist bloß      
  35 in eurem Gehirne und kann außer demselben gar nicht gegeben werden;      
  36 daher ihr nur dafür zu sorgen habt, mit euch selbst einig zu werden und      
  37 die Amphibolie zu verhüten, die eure Idee zu einer vermeintlichen Vorstellung      
           
     

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