Kant: AA III, Kritik der reinen Vernunft ... , Seite 219 |
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| 01 | Zeit Bestimmungen der Dinge an sich selbst wären. Sind es aber nur | ||||||
| 02 | sinnliche Anschauungen, in denen wir alle Gegenstände lediglich als Erscheinungen | ||||||
| 03 | bestimmen, so geht die Form der Anschauung (als eine subjective | ||||||
| 04 | Beschaffenheit der Sinnlichkeit) vor aller Materie (den Empfindungen), | ||||||
| 05 | mithin Raum und Zeit vor allen Erscheinungen und allen datis | ||||||
| 06 | der Erfahrung vorher und macht diese vielmehr allererst möglich. Der | ||||||
| 07 | Intellectualphilosoph konnte es nicht leiden: daß die Form vor den Dingen | ||||||
| 08 | selbst vorhergehen und dieser ihre Möglichkeit bestimmen sollte, eine | ||||||
| 09 | ganz richtige Censur, wenn er annahm, daß wir die Dinge anschauen, wie | ||||||
| 10 | sie sind (obgleich mit verworrener Vorstellung). Da aber die sinnliche | ||||||
| 11 | Anschauung eine ganz besondere subjective Bedingung ist, welche aller | ||||||
| 12 | Wahrnehmung a priori zum Grunde liegt, und deren Form ursprünglich | ||||||
| 13 | ist: so ist die Form für sich allein gegeben, und weit gefehlt, daß die | ||||||
| 14 | Materie (oder die Dinge selbst, welche erscheinen) zum Grunde liegen | ||||||
| 15 | sollte (wie man nach bloßen Begriffen urtheilen müßte), so setzt die Möglichkeit | ||||||
| 16 | derselben vielmehr eine formale Anschauung (Zeit und Raum) als | ||||||
| 17 | gegeben voraus. | ||||||
| 18 | Anmerkung |
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| 19 | zur Amphibolie der Reflexionsbegriffe. |
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| 20 | Man erlaube mir, die Stelle, welche wir einem Begriffe entweder in | ||||||
| 21 | der Sinnlichkeit, oder im reinen Verstande ertheilen, den transscendentalen | ||||||
| 22 | Ort zu nennen. Auf solche Weise wäre die Beurtheilung dieser | ||||||
| 23 | Stelle, die jedem Begriffe nach Verschiedenheit seines Gebrauchs zukommt, | ||||||
| 24 | und die Anweisung nach Regeln, diesen Ort allen Begriffen zu bestimmen, | ||||||
| 25 | die transscendentale Topik; eine Lehre, die vor Erschleichungen des | ||||||
| 26 | reinen Verstandes und daraus entspringenden Blendwerken gründlich bewahren | ||||||
| 27 | würde, indem sie jederzeit unterschiede, welcher Erkenntnißkraft | ||||||
| 28 | die Begriffe eigentlich angehören. Man kann einen jeden Begriff, einen | ||||||
| 29 | jeden Titel, darunter viele Erkenntnisse gehören, einen logischen Ort | ||||||
| 30 | nennen. Hierauf gründet sich die logische Topik des Aristoteles, deren | ||||||
| 31 | sich Schullehrer und Redner bedienen konnten, um unter gewissen Titeln | ||||||
| 32 | des Denkens nachzusehen, was sich am besten für eine vorliegende Materie | ||||||
| 33 | schickte, und darüber mit einem Schein von Gründlichkeit zu vernünfteln, | ||||||
| 34 | oder wortreich zu schwatzen. | ||||||
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