Kant: AA III, Kritik der reinen Vernunft ... , Seite 068

     
           
 

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Text (Kant):

 

 

 

 
  01 dessen Gültigkeit augenscheinlich werden und zu mehrer Klarheit dessen,      
  02 was § 3 angeführt worden, dienen kann.      
           
  03 Setzet demnach, Raum und Zeit seien an sich selbst objectiv und Bedingungen      
  04 der Möglichkeit der Dinge an sich selbst, so zeigt sich erstlich:      
  05 daß von beiden a priori apodiktische und synthetische Sätze in großer Zahl,      
  06 vornehmlich vom Raum, vorkommen, welchen wir darum vorzüglich hier      
  07 zum Beispiel untersuchen wollen. Da die Sätze der Geometrie synthetisch      
  08 a priori und mit apodiktischer Gewißheit erkannt werden, so frage ich:      
  09 woher nehmt ihr dergleichen Sätze, und worauf stützt sich unser Verstand,      
  10 um zu dergleichen schlechthin nothwendigen und allgemein gültigen Wahrheiten      
  11 zu gelangen? Es ist kein anderer Weg, als durch Begriffe oder      
  12 durch Anschauungen, beide aber als solche, die entweder a priori oder      
  13 a posteriori gegeben sind. Die letztern, nämlich empirische Begriffe, imgleichen      
  14 das, worauf sie sich gründen, die empirische Anschauung, können      
  15 keinen synthetischen Satz geben als nur einen solchen, der auch bloß empirisch,      
  16 d. i. ein Erfahrungssatz, ist, mithin niemals Nothwendigkeit und      
  17 absolute Allgemeinheit enthalten kann, dergleichen doch das charakteristische      
  18 aller Sätze der Geometrie ist. Was aber das erstere und einzige      
  19 Mittel sein würde, nämlich durch bloße Begriffe oder durch Anschauungen      
  20 a priori zu dergleichen Erkenntnissen zu gelangen, so ist klar, daß aus      
  21 bloßen Begriffen gar keine synthetische Erkenntniß, sondern lediglich analytische      
  22 erlangt werden kann. Nehmet nur den Satz, daß durch zwei      
  23 gerade Linien sich gar kein Raum einschließen lasse, mithin keine Figur      
  24 möglich sei, und versucht ihn aus dem Begriff von geraden Linien und      
  25 der Zahl zwei abzuleiten; oder auch, daß aus drei geraden Linien eine      
  26 Figur möglich sei, und versucht es eben so bloß aus diesen Begriffen. Alle      
  27 eure Bemühung ist vergeblich, und ihr seht euch genöthigt, zur Anschauung      
  28 eure Zuflucht zu nehmen, wie es die Geometrie auch jederzeit thut.      
  29 Ihr gebt euch also einen Gegenstand in der Anschauung; von welcher Art      
  30 aber ist diese, ist es eine reine Anschauung a priori oder eine empirische?      
  31 Wäre das letzte, so könnte niemals ein allgemein gültiger, noch weniger      
  32 ein apodiktischer Satz daraus werden: denn Erfahrung kann dergleichen      
  33 niemals liefern. Ihr müßt also euren Gegenstand a priori in der Anschauung      
  34 geben und auf diesen euren synthetischen Satz gründen. Läge      
  35 nun in euch nicht ein Vermögen, a priori anzuschauen; wäre diese subjective      
           
     

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