Kant: AA II, Untersuchung über die ... , Seite 284

     
           
 

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Text (Kant):

 

 

 

 
  01 Hier müssen viel Handlungen der Entwicklung dunkler Ideen, der Vergleichung,      
  02 Unterordnung und Einschränkung vor sich gehen, und ich getraue      
  03 mir zu sagen: daß, ob man gleich viel Wahres und Scharfsinniges von der      
  04 Zeit gesagt hat, dennoch die Realerklärung derselben niemals gegeben      
  05 worden; denn was die Namenerklärung anlangt, so hilft sie uns wenig      
  06 oder nichts, denn auch ohne sie versteht man dieses Wort genug, um es      
  07 nicht zu verwechseln. Hätte man so viele richtige Definitionen, als in      
  08 Büchern unter diesem Namen vorkommen, mit welcher Sicherheit würde      
  09 man nicht schließen und Folgerungen daraus ableiten können! Allein die      
  10 Erfahrung lehrt das Gegentheil.      
           
  11 In der Philosophie und namentlich in der Metaphysik kann man oft      
  12 sehr viel von einem Gegenstande deutlich und mit Gewißheit erkennen,      
  13 auch sichere Folgerungen daraus ableiten, ehe man die Definition desselben      
  14 besitzt, auch selbst dann, wenn man es gar nicht unternimmt, sie zu      
  15 geben. Von einem jeden Dinge können mir nämlich verschiedene Prädicate      
  16 unmittelbar gewiß sein, ob ich gleich deren noch nicht genug kenne,      
  17 um den ausführlich bestimmten Begriff der Sache, d. i. die Definition,      
  18 zu geben. Wenn ich gleich niemals erklärte, was eine Begierde sei, so      
  19 würde ich doch mit Gewißheit sagen können, daß eine jede Begierde eine      
  20 Vorstellung des Begehrten voraussetze, daß diese Vorstellung eine Vorhersehung      
  21 des Künftigen sei, daß mit ihr das Gefühl der Lust verbunden sei      
  22 etc. Alles dieses nimmt ein jeder in dem unmittelbaren Bewußtsein      
  23 der Begierde beständig wahr. Aus dergleichen verglichenen Bemerkungen      
  24 könnte man vielleicht endlich auf die Definition der Begierde kommen.      
  25 Allein so lange auch ohne sie dasjenige, was man sucht, aus einigen unmittelbar      
  26 gewissen Merkmalen desselben Dinges kann gefolgert werden,      
  27 so ist es unnöthig , eine Unternehmung, die so schlüpfrig ist, zu wagen.      
  28 In der Mathematik ist dieses, wie man weiß, ganz anders.      
           
  29 In der Mathematik ist die Bedeutung der Zeichen sicher, weil man      
  30 sich leichtlich bewußt werden kann, welche man ihnen hat ertheilen wollen.      
  31 In der Philosophie überhaupt und der Metaphysik insonderheit haben die      
  32 Worte ihre Bedeutung durch den Redegebrauch, außer in so fern sie ihnen      
  33 durch logische Einschränkung genauer ist bestimmt worden. Weil aber      
  34 bei sehr ähnlichen Begriffen, die dennoch eine ziemliche Verschiedenheit      
  35 versteckt enthalten, öfters einerlei Worte gebraucht werden, so muß man      
  36 hier bei jedesmaliger Anwendung des Begriffs, wenn gleich die Benennung      
  37 desselben nach dem Redegebrauch sich genau zu schicken scheint, mit      
           
     

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