Kant: AA II, Versuch über die Krankheiten ... , Seite 270 |
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01 | richtig schließen, und in diejenige, die aus richtigen Vorstellungen auf eine | ||||||
02 | verkehrte Art schließen. Diese Eintheilung stimmt mit den vorgetragenen | ||||||
03 | Sätzen wohl überein. Bei denen von der ersteren Art, den Phantasten, | ||||||
04 | oder Verrückten, leidet der Verstand eigentlich nicht, sondern nur das | ||||||
05 | Vermögen, welches in der Seele die Begriffe erweckt, deren die Urtheilskraft | ||||||
06 | nachher sich bedient, um sie zu vergleichen. Diesen Kranken kann | ||||||
07 | man sehr wohl Vernunfturtheile entgegensetzen, wenn gleich nicht ihr Übel | ||||||
08 | zu heben, dennoch wenigstens es zu mildern. Da aber bei denen von der | ||||||
09 | zweiten Art, den Wahnsinnigen und Wahnwitzigen, der Verstand selbst | ||||||
10 | angegriffen ist, so ist es nicht allein thöricht, mit ihnen zu vernünfteln | ||||||
11 | (weil sie nicht wahnsinnig sein würden, wenn sie diese Vernunftgründe | ||||||
12 | fassen könnten), sondern es ist auch höchstschädlich. Denn man giebt ihrem | ||||||
13 | verkehrten Kopfe nur dadurch neuen Stoff Ungereimtheiten auszuhecken; | ||||||
14 | der Widerspruch bessert sie nicht, sondern erhitzt sie, und es ist durchaus | ||||||
15 | nöthig, in dem Umgange gegen sie ein kaltsinniges und gütiges Wesen | ||||||
16 | anzunehmen, gleich als wenn man gar nicht bemerkte, daß ihrem Verstande | ||||||
17 | etwas fehle. | ||||||
18 | Ich habe die Gebrechen der Erkenntnißkraft Krankheiten des | ||||||
19 | Kopfes genannt, so wie man das Verderben des Willens eine Krankheit | ||||||
20 | des Herzens nennt. Ich habe auch nur auf die Erscheinungen derselben | ||||||
21 | im Gemüthe acht gehabt, ohne die Wurzel derselben ausspähen zu | ||||||
22 | wollen, die eigentlich wohl im Körper liegt und zwar ihren Hauptsitz mehr | ||||||
23 | in den Verdauungstheilen, als im Gehirne haben mag, wie die beliebte | ||||||
24 | Wochenschrift, die unter dem Namen des Arztes allgemein bekannt ist, es | ||||||
25 | im 150., 151., 152. Stücke wahrscheinlich darthut. Ich kann mich sogar | ||||||
26 | auf keinerlei Weise überreden: daß die Störung des Gemüths, wie man | ||||||
27 | gemeiniglich glaubt, aus Hochmuth, Liebe, aus gar zu starkem Nachsinnen | ||||||
28 | und wer weiß, was für einem Mißbrauch der Seelenkräfte entspringen | ||||||
29 | solle. Dieses Urtheil, welches dem Kranken aus seinem Unglücke einen | ||||||
30 | Grund zu spöttischen Vorwürfen macht, ist sehr lieblos und wird durch | ||||||
31 | einen gemeinen Irrthum veranlaßt, nach welchem man Ursache und Wirkung | ||||||
32 | zu verwechseln pflegt. Wenn man nur ein wenig auf die Beispiele | ||||||
33 | acht hat, so wird man gewahr: daß zuerst der Körper leide, daß im Anfange, | ||||||
34 | da der Keim der Krankheit sich unvermerkt entwickelt, eine zweideutige | ||||||
35 | Verkehrtheit gespürt wird, die noch keine Vermuthung einer Störung | ||||||
36 | des Gemüths giebt, und die sich in wunderlichen Liebesgrillen, oder | ||||||
37 | einem aufgeblasenen Wesen, oder in vergeblichem tiefsinnigem Grüblen | ||||||
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