Kant: AA II, Versuch über die Krankheiten ... , Seite 268 |
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| 01 | ganz verkehrt urtheilt: und von dieser Krankheit ist der erste | ||||||
| 02 | Grad der Wahnsinn, welcher in den nächsten Urtheilen aus der Erfahrung | ||||||
| 03 | der gemeinen Verstandesregel entgegen handelt. Der Wahnsinnige | ||||||
| 04 | sieht oder erinnert sich der Gegenstände so richtig wie jeder Gesunde, nur | ||||||
| 05 | er deutet gemeiniglich das Betragen anderer Menschen durch einen ungereimten | ||||||
| 06 | Wahn auf sich aus, und glaubt daraus wer weiß was für bedenkliche | ||||||
| 07 | Absichten lesen zu können, die jenen niemals in den Sinn kommen. | ||||||
| 08 | Wenn man ihn hört, so sollte man glauben, die ganze Stadt beschäftige | ||||||
| 09 | sich mit ihm. Die Marktleute, welche mit einander handeln und ihn etwa | ||||||
| 10 | ansehen, schmieden Anschläge wider ihn, der Nachtwächter ruft ihm zum | ||||||
| 11 | Possen, und kurz, er sieht nichts als eine allgemeine Verschwörung wider | ||||||
| 12 | sich. Der Melancholische, welcher in Ansehung seiner traurigen oder | ||||||
| 13 | kränkenden Vermuthungen wahnsinnig ist, ist ein Trübsinniger. Es giebt | ||||||
| 14 | aber auch allerlei ergötzenden Wahnsinn, und die verliebte Leidenschaft | ||||||
| 15 | schmeichelt oder quält sich mit manchen wunderlichen Deutungen, die dem | ||||||
| 16 | Wahnsinn ähnlich sind. Ein Hochmüthiger ist in gewisser Maße ein | ||||||
| 17 | Wahnsinniger, welcher aus dem Betragen anderer, die ihn spöttisch angaffen, | ||||||
| 18 | schließt, daß sie ihn bewundern. Der zweite Grad des in Ansehung | ||||||
| 19 | der oberen Erkenntnißkraft gestörten Kopfes ist eigentlich die in Unordnung | ||||||
| 20 | gebrachte Vernunft, in so fern sie sich in eingebildeten feineren Urtheilen | ||||||
| 21 | über allgemeine Begriffe auf eine ungereimte Art verirrt, und kann | ||||||
| 22 | der Wahnwitz genannt werden. In dem höheren Grade dieser Störung | ||||||
| 23 | schwärmen durch das verbrannte Gehirn allerlei angemaßte überfeine Einsichten: | ||||||
| 24 | die erfundene Länge des Meeres, die Auslegung von Prophezeiungen, | ||||||
| 25 | oder wer weiß was für ein Mischmasch von unkluger Kopfbrecherei. | ||||||
| 26 | Wenn der Unglückliche hiebei zugleich die Erfahrungsurtheile | ||||||
| 27 | vorbei geht, so heißt er aberwitzig. In dem Falle aber, daß er viele richtige | ||||||
| 28 | Erfahrungsurtheile zum Grunde liegen habe, nur daß seine Empfindung | ||||||
| 29 | durch die Neuigkeit und Menge der Folgen, die sein Witz ihm darbietet, | ||||||
| 30 | dergestalt berauscht ist, daß er nicht mehr auf die Richtigkeit der | ||||||
| 31 | Verbindung acht hat, so entspringt daraus öfters ein sehr schimmernder | ||||||
| 32 | Anschein von Wahnwitz, welcher mit einem großen Genie zusammen bestehen | ||||||
| 33 | kann, in so fern die langsame Vernunft den empörten Witz nicht | ||||||
| 34 | mehr zu begleiten vermag. Der Zustand des gestörten Kopfes, der ihn | ||||||
| 35 | gegen die äußeren Empfindungen fühllos macht, ist Unsinnigkeit; diese, | ||||||
| 36 | so fern der Zorn darin herrscht, heißt die Raserei. Die Verzweifelung ist | ||||||
| 37 | ein vorübergehender Unsinn eines Hoffnungslosen. Die brausende Heftigkeit | ||||||
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