Kant: AA II, Versuch über die Krankheiten ... , Seite 266 |
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01 | Kirchthürme. Der Schrecken macht aus den Strahlen des Nordlichts | ||||||
02 | Spieße und Schwerter und bei der Dämmerung aus einem Wegweiser ein | ||||||
03 | Riesengespenst. | ||||||
04 | Die phantastische Gemüthsbeschaffenheit ist nirgend gemeiner als | ||||||
05 | in der Hypochondrie. Die Chimären, welche diese Krankheit ausheckt, täuschen | ||||||
06 | eigentlich nicht die äußeren Sinne, sondern machen nur dem Hypochondristen | ||||||
07 | ein Blendwerk von einer Empfindung seines eigenen Zustandes, | ||||||
08 | entweder des Körpers oder der Seele, die größtentheils eine leere | ||||||
09 | Grille ist. Der Hypochondrist hat ein Übel, das, an welchem Orte es | ||||||
10 | auch seinen Hauptsitz haben mag, dennoch wahrscheinlicher Weise das Nervengewebe | ||||||
11 | in allerlei Theilen des Körpers unstätig durchwandert. Es zieht | ||||||
12 | aber vornehmlich einen melancholischen Dunst um den Sitz der Seele, dermaßen | ||||||
13 | daß der Patient das Blendwerk fast aller Krankheiten, von denen | ||||||
14 | er nur hört, an sich selbst fühlt. Er redet daher von nichts lieber als von | ||||||
15 | seiner Unpäßlichkeit, lieset gerne medicinische Bücher, findet allenthalben | ||||||
16 | seine eigenen Zufälle, in Gesellschaft wandelt ihn auch wohl unvermerkt | ||||||
17 | seine gute Laune an, und alsdann lacht er viel, speiset gut und hat gemeiniglich | ||||||
18 | das Ansehen eines gesunden Menschen. Die innere Phantasterei | ||||||
19 | desselben anlangend, so bekommen die Bilder in seinem Gehirne öfters eine | ||||||
20 | Stärke und Dauer, die ihm beschwerlich ist. Wenn ihm eine lächerliche | ||||||
21 | Figur im Kopfe ist (ob er sie gleich selber nur für ein Bild der Phantasie | ||||||
22 | erkennt), wenn diese Grille ihm ein ungeziemendes Lachen in anderer | ||||||
23 | Gegenwart ablockt, ohne daß er die Ursache davon anzeigt, oder wenn | ||||||
24 | allerhand finstere Vorstellungen in ihm einen gewaltsamen Trieb rege | ||||||
25 | machen, irgend etwas Böses zu stiften, vor dessen Ausbruch er selbst ängstlich | ||||||
26 | besorgt ist, und der gleichwohl niemals zur That kommt: alsdann hat | ||||||
27 | sein Zustand viel Ähnliches mit dem eines Verrückten, allein es hat keine | ||||||
28 | Noth. Das Übel ist nicht tief gewurzelt und hebt sich, in so weit es das | ||||||
29 | Gemüth angeht, gemeiniglich entweder von selbst, oder durch einige Arzeneimittel. | ||||||
30 | Einerlei Vorstellung wirkt nach dem verschiedenen Gemüthszustande | ||||||
31 | der Menschen in ganz unterschiedlichen Graden auf die Empfindung. | ||||||
32 | Es giebt daher eine Art von Phantasterei, die jemanden blos deswegen | ||||||
33 | beigemessen wird, weil der Grad des Gefühls, dadurch er von gewissen | ||||||
34 | Gegenständen gerührt wird, für die Mäßigung eines gesunden | ||||||
35 | Kopfes ausschweifend zu sein geurtheilt wird. Auf diesen Fuß ist der | ||||||
36 | Melancholicus ein Phantast in Ansehung der Übel des Lebens. Die | ||||||
37 | Liebe hat überaus viel phantastische Entzückungen, und das feine Kunststück | ||||||
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