Kant: AA II, Versuch über die Krankheiten ... , Seite 265 |
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01 | Vernunft dennoch für eine wirkliche Erfahrung gehalten werden | ||||||
02 | müssen. Denn es wäre umsonst, einer Empfindung, oder derjenigen Vorstellung, | ||||||
03 | die ihr an Stärke gleich kommt, Vernunftgründe entgegen zu | ||||||
04 | setzen, weil von wirklichen Dingen die Sinne weit größere Überzeugung | ||||||
05 | geben als ein Vernunftschluß; zum wenigsten kann derjenige, den diese | ||||||
06 | Chimäre bezaubert, niemals durch Vernünfteln dahin gebracht werden, | ||||||
07 | an der Wirklichkeit seiner vermeinten Empfindung zu zweifeln. Man findet | ||||||
08 | auch: daß Personen, die in andern Fällen gnug reife Vernunft zeigen, | ||||||
09 | gleichwohl fest darauf beharren, mit aller Achtsamkeit wer weiß was für | ||||||
10 | Gespenstergestalten und Fratzengesichter gesehen zu haben, und daß sie | ||||||
11 | wohl gar fein genug sind, ihre eingebildete Erfahrung mit manchem subtilen | ||||||
12 | Vernunfturtheil in Zusammenhang zu bringen. Diese Eigenschaft | ||||||
13 | des Gestörten, nach welcher er ohne einen besonders merklichen Grad einer | ||||||
14 | heftigen Krankheit im wachenden Zustande gewohnt ist, gewisse Dinge als | ||||||
15 | klar empfunden sich vorzustellen, von denen gleichwohl nichts gegenwärtig | ||||||
16 | ist, heißt die Verrückung. Der Verrückte ist also ein Träumer im | ||||||
17 | Wachen. Ist das gewöhnliche Blendwerk seiner Sinne nur zum Theil eine | ||||||
18 | Chimäre, größten Theils aber eine wirkliche Empfindung, so ist der, so im | ||||||
19 | höheren Grade zu solcher Verkehrtheit aufgelegt ist, ein Phantast. Wenn | ||||||
20 | wir nach dem Erwachen in einer lässigen und sanften Zerstreuung liegen, | ||||||
21 | so zeichnet unsere Einbildung die unregelmäßigen Figuren etwa der Bettvorhänge, | ||||||
22 | oder gewisser Flecke einer nahen Wand zu Menschengestalten | ||||||
23 | aus mit einer scheinbaren Richtigkeit, welche uns auf eine nicht unangenehme | ||||||
24 | Art unterhält, wovon wir aber das Blendwerk den Augenblick, | ||||||
25 | wenn wir wollen, zerstreuen. Wir träumen alsdann nur zum Theil und | ||||||
26 | haben die Chimäre in unserer Gewalt. Geschieht etwas dem Ähnliches | ||||||
27 | in einem höheren Grade, ohne daß die Aufmerksamkeit des Wachenden | ||||||
28 | das Blendwerk in der täuschenden Einbildung abzusondern vermag, so läßt | ||||||
29 | diese Verkehrtheit einen Phantasten vermuthen. Dieser Selbstbetrug in | ||||||
30 | den Empfindungen ist übrigens sehr gemein, und so lange er nur mittelmäßig | ||||||
31 | ist, wird er mit einer solchen Benennung verschont, obzwar, wenn | ||||||
32 | eine Leidenschaft hinzukommt, dieselbe Gemüthsschwäche in wirkliche | ||||||
33 | Phantasterei ausarten kann. Sonst sehen durch eine gewöhnliche Verblendung | ||||||
34 | die Menschen nicht, was da ist, sondern was ihnen ihre Neigung | ||||||
35 | vormalt, der Naturaliensammler im Florenstinerstein Städte, der Andächtige | ||||||
36 | im gefleckten Marmor die Passionsgeschichte, jene Dame durch ein | ||||||
37 | Seherohr im Monde die Schatten zweier Verliebten, ihr Pfarrer aber zwei | ||||||
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