Kant: AA II, Versuch über die Krankheiten ... , Seite 264 |
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| 01 | ein neues Leben zu gießen. Die Erscheinungen dieser Schwachheit, welche | ||||||
| 02 | den Unglücklichen niemals aus dem Stande der Kindheit herausgehen | ||||||
| 03 | läßt, sind zu bekannt, als daß es nöthig wäre sich dabei lange aufzuhalten. | ||||||
| 05 | Die Gebrechen des gestörten Kopfes lassen sich auf so viel verschiedene | ||||||
| 06 | Hauptgattungen bringen, als Gemüthsfähigkeiten sind, die dadurch | ||||||
| 07 | angegriffen worden. Ich vermeine sie insgesammt unter folgende drei Eintheilungen | ||||||
| 08 | ordnen zu können: erstlich die Verkehrtheit der Erfahrungsbegriffe | ||||||
| 09 | in der Verrückung, zweitens die in Unordnung gebrachte Urtheilskraft | ||||||
| 10 | zunächst bei dieser Erfahrung in dem Wahnsinn, drittens die in | ||||||
| 11 | Ansehung allgemeinerer Urtheile verkehrt gewordene Vernunft in dem | ||||||
| 12 | Wahnwitze. Alle übrige Erscheinungen des kranken Gehirns können, | ||||||
| 13 | wie mich dünkt, entweder als verschiedene Grade der erwähnten Zufälle, | ||||||
| 14 | oder als eine unglückliche Vereinbarung dieser Übel unter einander, oder | ||||||
| 15 | endlich als die Einpfropfung derselben auf mächtige Leidenschaften angesehen | ||||||
| 16 | und den angeführten Classen untergeordnet werden. | ||||||
| 17 | Was das erste Übel, nämlich die Verrückung, anlangt, so erläutere | ||||||
| 18 | ich die Erscheinungen derselben auf folgende Art. Die Seele eines jeden | ||||||
| 19 | Menschen ist selbst in dem gesundesten Zustande geschäftig, allerlei Bilder | ||||||
| 20 | von Dingen, die nicht gegenwärtig sind, zu malen, oder auch an der Vorstellung | ||||||
| 21 | gegenwärtiger Dinge einige unvollkommene Ähnlichkeit zu vollenden | ||||||
| 22 | durch einen oder andern chimärischen Zug, den die schöpferische Dichtungsfähigkeit | ||||||
| 23 | mit in die Empfindung einzeichnet. Man hat gar nicht Ursache | ||||||
| 24 | zu glauben: daß in dem Zustande des Wachens unser Geist hiebei | ||||||
| 25 | andere Gesetze befolge als im Schlafe, es ist vielmehr zu vermuthen, daß | ||||||
| 26 | nur die lebhaften sinnlichen Eindrücke in dem ersten Falle die zärtere Bilder | ||||||
| 27 | der Chimären verdunkeln und unkenntlich machen, anstatt daß diese im | ||||||
| 28 | Schlafe ihre ganze Stärke haben, in welchem allen äußerlichen Eindrücken | ||||||
| 29 | der Zugang zu der Seele verschlossen ist. Es ist daher kein Wunder, daß | ||||||
| 30 | Träume, so lange sie dauren, für wahrhafte Erfahrungen wirklicher Dinge | ||||||
| 31 | gehalten werden. Denn da sie alsdann in der Seele die stärkste Vorstellungen | ||||||
| 32 | sind, so sind sie in diesem Zustande eben das, was im Wachen die | ||||||
| 33 | Empfindungen sind. Man setze nun, daß gewisse Chimären, durch welche | ||||||
| 34 | Ursache es auch sei, gleichsam eine oder andere Organe des Gehirnes verletzt | ||||||
| 35 | hätten, dermaßen daß der Eindruck auf dieselbe eben so tief und zugleich | ||||||
| 36 | eben so richtig geworden wäre, als ihn eine sinnliche Empfindung nur | ||||||
| 37 | machen kann, so wird dieses Hirngespenst selbst im Wachen bei guter, gesunder | ||||||
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