Kant: AA II, Beobachtungen über das ... , Seite 250 |
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01 | In der Liebe haben der Deutsche und der Engländer einen ziemlich | ||||||
02 | guten Magen, etwas fein von Empfindung, mehr aber von gesundem und | ||||||
03 | derbem Geschmacke. Der Italiäner ist in diesem Punkte grüblerisch, | ||||||
04 | der Spanier phantastisch, der Franzose vernascht. | ||||||
05 | Die Religion unseres Welttheils ist nicht die Sache eines eigenwilligen | ||||||
06 | Geschmacks, sondern von ehrwürdigerem Ursprunge. Daher können | ||||||
07 | auch nur die Ausschweifungen in derselben und das, was darin den | ||||||
08 | Menschen eigenthümlich angehört, Zeichen von den verschiedenen Nationaleigenschaften | ||||||
09 | abgeben. Ich bringe diese Ausschweifungen unter folgende | ||||||
10 | Hauptbegriffe: Leichtgläubigkeit (Credulität), Aberglaube (Superstition), | ||||||
11 | Schwärmerei (Fanaticism) und Gleichgültigkeit (Indifferentism). | ||||||
12 | Leichtgläubig ist mehrentheils der unwissende Theil einer | ||||||
13 | jeden Nation, ob er gleich kein merkliches feineres Gefühl hat. Die Überredung | ||||||
14 | kommt lediglich auf das Hörensagen und das scheinbare Ansehen | ||||||
15 | an, ohne daß einige Art des feinern Gefühls dazu die Triebfeder enthielte. | ||||||
16 | Die Beispiele ganzer Völker von dieser Art muß man in Norden | ||||||
17 | suchen. Der Leichtgläubige, wenn er von abenteuerlichem Geschmack ist, | ||||||
18 | wird abergläubisch. Dieser Geschmack ist sogar an sich selbst ein Grund | ||||||
19 | etwas leichter zu glauben*), und von zwei Menschen, deren der eine von | ||||||
20 | diesem Gefühl angesteckt, der andere aber von kalter und gemäßigter Gemüthsart | ||||||
21 | ist, wird der erstere, wenn er gleich wirklich mehr Verstand hat, | ||||||
22 | dennoch durch seine herrschende Neigung eher verleitet werden etwas Unnatürliches | ||||||
23 | zu glauben, als der andere, welchen nicht seine Einsicht, sondern | ||||||
24 | sein gemeines und phlegmatisches Gefühl vor dieser Ausschweifung | ||||||
25 | bewahrt. Der Abergläubische in der Religion stellt zwischen sich und dem | ||||||
26 | höchsten Gegenstande der Verehrung gerne gewisse mächtige und erstaunliche | ||||||
27 | Menschen, Riesen so zu reden der Heiligkeit, denen die Natur gehorcht | ||||||
28 | und deren beschwörende Stimme die eiserne Thore des Tartarus auf= oder | ||||||
29 | zuschließt, die, indem sie mit ihrem Haupte den Himmel berühren, ihren | ||||||
*) Man hat sonst bemerkt, daß die Engländer als ein so kluges Volk gleichwohl leichtlich durch eine dreiste Ankündigung einer wunderlichen und ungereimten Sache können berückt werden sie anfänglich zu glauben; wovon man viele Beispiele hat. Allein eine kühne Gemüthsart, vorbereitet durch verschiedene Erfahrungen, in welchen manche seltsame Dinge gleichwohl wahr befunden worden, bricht geschwinde durch die kleine Bedenklichkeiten, von denen ein schwacher und mißtrauischer Kopf bald aufgehalten wird und so ohne sein Verdienst bisweilen vor dem Irrthum verwahrt wird. | |||||||
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