Kant: AA II, Beobachtungen über das ... , Seite 251 |
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01 | Fuß noch auf der niederen Erde stehen haben. Die Unterweisung der gesunden | ||||||
02 | Vernunft wird demnach in Spanien große Hindernisse zu überwinden | ||||||
03 | haben, nicht darum weil sie die Unwissenheit daselbst zu vertreiben | ||||||
04 | hat, sondern weil ein seltsamer Geschmack ihr entgegensteht, welchem das | ||||||
05 | Natürliche gemein ist, und der niemals glaubt in einer erhabenen Empfindung | ||||||
06 | zu sein, wenn sein Gegenstand nicht abenteuerlich ist. Die | ||||||
07 | Schwärmerei ist so zu sagen eine andächtige Vermessenheit und wird | ||||||
08 | durch einen gewissen Stolz und ein gar zu großes Zutrauen zu sich selbst | ||||||
09 | veranlaßt, um den himmlischen Naturen näher zu treten und sich durch | ||||||
10 | einen erstaunlichen Flug über die gewöhnliche und vorgeschriebene Ordnung | ||||||
11 | zu erheben. Der Schwärmer redet nur von unmittelbarer Eingebung | ||||||
12 | und vom beschaulichen Leben, indessen daß der Abergläubische vor den Bildern | ||||||
13 | großer wunderthätiger Heiligen Gelübde thut und sein Zutrauen auf | ||||||
14 | die eingebildete und unnachahmliche Vorzüge anderer Personen von seiner | ||||||
15 | eigenen Natur setzt. Selbst die Ausschweifungen führen, wie wir oben bemerkt | ||||||
16 | haben, Zeichen des Nationalgefühls bei sich, und so ist der Fanaticismus*) | ||||||
17 | wenigstens in den vorigen Zeiten am meisten in Deutschland | ||||||
18 | und England anzutreffen gewesen und ist gleichsam ein unnatürlicher Auswuchs | ||||||
19 | des edlen Gefühls, welches zu dem Charakter dieser Völker gehört, | ||||||
20 | und überhaupt bei weitem nicht so schädlich, als die abergläubische Neigung, | ||||||
21 | wenn er gleich im Anfange ungestüm ist, weil die Erhitzung eines | ||||||
22 | schwärmerischen Geistes allmählig verkühlt und seiner Natur nach endlich | ||||||
23 | zur ordentlichen Mäßigung gelangen muß, anstatt daß der Aberglaube | ||||||
24 | sich in einer ruhigen und leidenden Gemüthsbeschaffenheit unvermerkt | ||||||
25 | tiefer einwurzelt und dem gefesselten Menschen das Zutrauen gänzlich benimmt, | ||||||
26 | sich von einem schädlichen Wahne jemals zu befreien. Endlich ist | ||||||
27 | ein Eiteler und Leichtsinniger jederzeit ohne stärkeres Gefühl für das | ||||||
28 | Erhabene, und seine Religion ist ohne Rührung, mehrentheils nur eine | ||||||
29 | Sache der Mode, welche er mit aller Artigkeit begeht und kalt bleibt. | ||||||
30 | Dieses ist der praktische Indifferentismus, zu welchem der französische | ||||||
31 | Nationalgeist am meisten geneigt zu sein scheint, wovon bis zur | ||||||
*) Der Fanaticism muß vom Enthusiasmus jederzeit unterschieden werden. Jener glaubt eine unmittelbare und außerordentliche Gemeinschaft mit einer höheren Natur zu fühlen, dieser bedeutet den Zustand des Gemüths, da dasselbe durch irgend einen Grundsatz über den geziemenden Grad erhitzt worden, es sei nun durch die Maxime der patriotischen Tugend, oder der Freundschaft, oder der Religion, ohne daß hiebei die Einbildung einer übernatürlichen Gemeinschaft etwas zu schaffen hat. | |||||||
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