Kant: AA II, Beobachtungen über das ... , Seite 245 |
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01 | entstellt werden. Nichts kann allen Künsten und Wissenschaften mehr entgegen | ||||||
02 | sein als ein abenteuerlicher Geschmack, weil dieser die Natur verdreht, | ||||||
03 | welche das Urbild alles Schönen und Edlen ist. Daher hat die | ||||||
04 | spanische Nation auch wenig Gefühl für die schönen Künste und Wissenschaften | ||||||
05 | an sich gezeigt. | ||||||
06 | Die Gemüthscharaktere der Völkerschaften sind am kenntlichsten bei | ||||||
07 | demjenigen, was an ihnen moralisch ist; um deswillen wollen wir noch | ||||||
08 | das verschiedene Gefühl derselben in Ansehung des Erhabenen und Schönen | ||||||
09 | aus diesem Gesichtspunkte in Erwägung ziehen.*) | ||||||
10 | Der Spanier ist ernsthaft, verschwiegen und wahrhaft. Es giebt | ||||||
11 | wenig redlichere Kaufleute in der Welt als die spanischen. Er hat eine | ||||||
12 | stolze Seele und mehr Gefühl für große als für schöne Handlungen. Da | ||||||
13 | in seiner Mischung wenig von dem gütigen und sanften Wohlwollen anzutreffen | ||||||
14 | ist, so ist er öfters hart und auch wohl grausam. Das Auto | ||||||
15 | da Fe erhält sich nicht sowohl durch den Aberglauben, als durch die abenteuerliche | ||||||
16 | Neigung der Nation, welche durch einen ehrwürdig=schrecklichen | ||||||
17 | Aufzug gerührt wird, worin es den mit Teufelsgestalten bemalten San | ||||||
18 | Benito den Flammen, die eine wüthende Andacht entzündet hat, überliefern | ||||||
19 | sieht. Man kann nicht sagen, der Spanier sei hochmüthiger, oder | ||||||
20 | verliebter als jemand aus einem andern Volke, allein er ist beides auf | ||||||
21 | eine abenteuerliche Art, die seltsam und ungewöhnlich ist. Den Pflug | ||||||
22 | stehen lassen und mit einem langen Degen und Mantel so lange auf dem | ||||||
23 | Ackerfelde spazieren, bis der vorüber reisende Fremde vorbei ist, oder in | ||||||
24 | einem Stiergefechte, wo die Schönen des Landes einmal unverschleiert gesehen | ||||||
25 | werden, seine Beherrscherin durch einen besonderen Gruß ankündigen | ||||||
26 | und dann ihr zu ehren sich in einen gefährlichen Kampf mit einem wilden | ||||||
27 | Thiere wagen, sind ungewöhnliche und seltsame Handlungen, die von | ||||||
28 | dem Natürlichen weit abweichen. | ||||||
29 | Der Italiäner scheint ein gemischtes Gefühl zu haben von dem eines | ||||||
30 | Spaniers und dem eines Franzosen; mehr Gefühl für das Schöne als der | ||||||
31 | erstere und mehr für das Erhabene als der letztere. Auf diese Art können, | ||||||
32 | wie ich meine, die übrige Züge seines moralischen Charakters erklärt werden. | ||||||
*) Es ist kaum nöthig, daß ich hier meine vorige Entschuldigung wiederhole. In jedem Volke enthält der feinste Theil rühmliche Charaktere von aller Art, und wen ein oder anderer Tadel treffen sollte, der wird, wenn er fein genug ist, seinen Vortheil verstehen, der darauf ankommt, daß er jeden andern seinem Schicksale überläßt, sich selbst aber ausnimmt. | |||||||
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