Kant: AA II, Beobachtungen über das ... , Seite 216

     
           
 

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Text (Kant):

 

 

 

 
  01 jederzeit blind. Denn setzet, diese Empfindung bewege euch, mit eurem      
  02 Aufwande einem Nothleidenden aufzuhelfen, allein ihr seid einem andern      
  03 schuldig und setzt euch dadurch außer Stand, die strenge Pflicht der Gerechtigkeit      
  04 zu erfüllen, so kann offenbar die Handlung aus keinem tugendhaften      
  05 Vorsatze entspringen, denn ein solcher könnte euch unmöglich anreizen      
  06 eine höhere Verbindlichkeit dieser blinden Bezauberung aufzuopfern.      
  07 Wenn dagegen die allgemeine Wohlgewogenheit gegen das menschliche      
  08 Geschlecht in euch zum Grundsatze geworden ist, welchem ihr jederzeit eure      
  09 Handlungen unterordnet, alsdann bleibt die Liebe gegen den Nothleidenden      
  10 noch, allein sie ist jetzt aus einem höhern Standpunkte in das wahre      
  11 Verhältniß gegen eure gesammte Pflicht versetzt worden. Die allgemeine      
  12 Wohlgewogenheit ist ein Grund der Theilnehmung an seinem Übel, aber      
  13 auch zugleich der Gerechtigkeit, nach deren Vorschrift ihr jetzt diese Handlung      
  14 unterlassen müsset. So bald nun dieses Gefühl zu seiner gehörigen      
  15 Allgemeinheit gestiegen ist, so ist es erhaben, aber auch kälter. Denn es      
  16 ist nicht möglich, daß unser Busen für jedes Menschen Antheil von Zärtlichkeit      
  17 aufschwelle und bei jeder fremden Noth in Wehmuth schwimme, sonst      
  18 würde der Tugendhafte, unaufhörlich in mitleidigen Thränen wie Heraklit      
  19 schmelzend, bei aller dieser Gutherzigkeit gleichwohl nichts weiter als ein      
  20 weichmüthiger Müßiggänger werden.*)      
           
  21 Die zweite Art des gütigen Gefühls, welches zwar schön und liebenswürdig,      
  22 aber noch nicht die Grundlage einer wahren Tugend ist, ist die      
  23 Gefälligkeit, eine Neigung, andern durch Freundlichkeit, durch Einwilligung      
  24 in ihr Verlangen und durch Gleichförmigkeit unseres Betragens      
  25 mit ihren Gesinnungen angenehm zu werden. Dieser Grund einer reizenden      
  26 Geselligkeit ist schön und die Biegsamkeit eines solchen Herzens gutartig.      
  27 Allein sie ist so gar keine Tugend, daß, wo nicht höhere Grundsätze      
           
    *) Bei näherer Erwägung findet man, daß, so liebenswürdig auch die mitleidige Eigenschaft sein mag, sie doch die Würde der Tugend nicht an sich habe. Ein leidendes Kind, ein unglückliches und artiges Frauenzimmer wird unser Herz mit dieser Wehmuth anfüllen, indem wir zu gleicher Zeit die Nachricht von einer großen Schlacht mit Kaltsinn vernehmen, in welcher, wie leicht zu erachten, ein ansehnlicher Theil des menschlichen Geschlechts unter grausamen Übeln unverschuldet erliegen muß. Mancher Prinz, der sein Gesicht von Wehmuth für eine einzige unglückliche Person wegwandte, gab gleichwohl aus einem ofters eitlen Bewegungsgrunde zu gleicher Zeit den Befehl zum Kriege. Es ist hier gar keine Proportion in der Wirkung, wie kann man denn sagen, daß die allgemeine Menschenliebe die Ursache sei?      
           
     

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