Kant: AA II, Versuch den Begriff der ... , Seite 200

     
           
 

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  01 sind allem Ansehen nach nur der Einstimmung oder Entgegensetzung      
  02 aller dieser Thätigkeit beizumessen. Man kann diese Urtheile als Erläuterungen      
  03 des ersten Satzes der vorigen Nummer ansehen.      
           
  04 In moralischen Dingen ist das Zero gleichfalls nicht immer als eine      
  05 Verneinung des Mangels zu betrachten und eine positive Folge von mehr      
  06 Größe nicht jederzeit ein Beweis von einer größeren Thätigkeit, die in der      
  07 Richtung auf diese Folge angewandt worden. Gebet einem Menschen zehn      
  08 Grade Leidenschaft, die in einem gewissen falle den Regeln der Pflicht      
  09 widerstreitet, z. E. Geldgeiz! Lasset ihn zwölf Grade Bestrebung nach      
  10 Grundsätzen der Nächstenliebe anwenden; die Folge ist von zwei Graden,      
  11 so viel als er wohlthätig und hülfreich sein wird. Gedenket euch einen andern      
  12 von drei Graden Geldbegierde und von sieben Graden Vermögen      
  13 nach Grundsätzen der Verbindlichkeit zu handeln! Die Handlung wird      
  14 vier Grade groß sein, als so viel nach dem Streite seiner Begierde er einem      
  15 andern Menschen nützlich sein wird. Es ist aber unstreitig: daß, in so fern      
  16 die gedachte Leidenschaft als natürlich und unwillkürlich kann angesehen      
  17 werden, der moralische Werth der Handlung des ersteren größer sei als      
  18 des zweiten, obzwar, wenn man sie durch die lebendige Kraft schätzen      
  19 wollte, die Folge in dem letzteren Fall jene übertrifft. Um des willen ist      
  20 es Menschen unmöglich den Grad der tugendhaften Gesinnung anderer      
  21 aus ihren Handlungen sicher zu schließen, und es hat auch derjenige das      
  22 Richten sich allein vorbehalten, der in das Innerste der Herzen sieht.      
           
  23 4. Wenn man es wagen will diese Begriffe auf das so gebrechliche      
  24 Erkenntniß anzuwenden, welches Menschen von der unendlichen Gottheit      
  25 haben können, welche Schwierigkeiten umgeben alsdann nicht unsere      
  26 äußerste Bestrebungen? Da wir die Grundlage zu diesen Begriffen nur      
  27 von uns selbst hernehmen können, so ist es in den mehrsten Fällen dunkel,      
  28 ob wir diese Idee eigentlich oder nur vermittelst einiger Analogie auf diesen      
  29 unbegreiflichen Gegenstand übertragen sollen. Simonides ist noch      
  30 immer ein Weiser, der nach vielfältiger Zögerung und Aufschub seinem      
  31 Fürsten die Antwort gab: Je mehr ich über Gott nachsinne, desto weniger      
  32 vermag ich ihn einzusehen. So lautet nicht die Sprache des gelehrten      
  33 Pöbels. Er weiß nichts, er versteht nichts, aber er redet von allem, und      
  34 was er redet, darauf pocht er. In dem höchsten Wesen können keine Gründe      
  35 der Beraubung oder einer Realentgegensetzung statt finden. Denn weil      
  36 in ihm und durch ihn alles gegeben ist, so ist durch den Allbesitz der Bestimmungen      
  37 in seinem eigenen Dasein keine innere Aufhebung möglich.      
           
     

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