Kant: AA II, Versuch den Begriff der ... , Seite 180 |
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01 | Dadurch wird alsdann angezeigt, daß sie ein eben so positiver Grund sei | ||||||
02 | als eine jede andere Bewegkraft in der Natur, und da die negative Anziehung | ||||||
03 | eigentlich eine wahre Zurückstoßung ist, so wird in den Kräften | ||||||
04 | der Elemente, vermöge deren sie einen Raum einnehmen, doch aber so, daß | ||||||
05 | sie diesem selbst Schranken setzen, durch den Conflictus zweier Kräfte, die | ||||||
06 | einander entgegengesetzt sind, Anlaß zu vielen Erläuterungen gegeben, | ||||||
07 | worin ich glaube zu einer deutlichen und zuverlässigen Erkenntniß gekommen | ||||||
08 | zu sein, die ich in einer andern Abhandlung bekannt machen | ||||||
09 | werde. | ||||||
10 | 2. Wir wollen ein Beispiel aus der Seelenlehre nehmen. Es ist die | ||||||
11 | Frage: ob Unlust lediglich ein Mangel der Lust, oder ein Grund der Beraubung | ||||||
12 | derselben, der an sich selbst zwar was Positives, und nicht lediglich | ||||||
13 | das contradictorische Gegentheil von Lust, ihr aber im Realverstande | ||||||
14 | entgegengesetzt sei, und also ob die Unlust eine negative Lust könne genannt | ||||||
15 | werden. Nun lehrt gleich anfangs die innere Empfindung: daß die | ||||||
16 | Unlust mehr als eine bloße Verneinung sei. Denn was man auch nur für | ||||||
17 | Lust haben mag, so fehlt hiebei doch immer einige mögliche Lust, so lange | ||||||
18 | wir eingeschränkte Wesen sind. Derjenige, welcher ein Medicament, das | ||||||
19 | wie das reine Wasser schmeckt, einnimmt, hat vielleicht eine Lust über die | ||||||
20 | erwartete Gesundheit; in dem Geschmacke hingegen fühlt er eben keine | ||||||
21 | Lust: dieser Mangel ist aber noch nicht Unlust. Gebet ihm ein Arzneimittel | ||||||
22 | von Wermuth. Diese Empfindung ist sehr positiv. Hier ist nicht ein | ||||||
23 | bloßer Mangel von Lust, sondern etwas, was ein wahrer Grund des Gefühls | ||||||
24 | ist, welches man Unlust nennt. | ||||||
25 | Allein man kann aus der angeführten Erläuterung allenfalls nur erkennen: | ||||||
26 | daß die Unlust nicht lediglich ein Mangel, sondern eine positive Empfindung | ||||||
27 | sei; daß sie aber sowohl etwas Positives, als auch der Lust real entgegen | ||||||
28 | gesetzt sei, erhellt am deutlichsten auf folgende Art. Man bringt | ||||||
29 | einer spartanischen Mutter die Nachricht, daß ihr Sohn im Treffen für | ||||||
30 | das Vaterland heldenmüthig gefochten habe. Das angenehme Gefühl der | ||||||
31 | Lust bemächtigt sich ihrer Seele. Es wird hinzugefügt, er habe hiebei | ||||||
32 | einen rühmlichen Tod erlitten. Dieses vermindert gar sehr jene Lust und | ||||||
33 | setzt sie auf einen geringern Grad. Nennet die Grade der Lust aus dem | ||||||
34 | ersten Grunde allein 4a, und die Unlust sei bloß eine Verneinung = 0, | ||||||
35 | so ist, nachdem beides zusammen genommen worden, der Werth des Vergnügens | ||||||
36 | 4a+0=4a , und also wäre die Lust durch die Nachricht des | ||||||
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