Kant: AA II, Gedanken bei dem ... , Seite 042 |
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01 | zerrissen; indessen daß Armuth und Elend gemeiniglich an dem Rocken | ||||||
02 | der Parzen einen langen Faden ziehen und viele nur scheinen sich oder | ||||||
03 | andern zur Plage so lange zu leben. In diesem scheinbaren Widerspruche | ||||||
04 | theilt gleichwohl der oberste Beherrscher einem jeden das Loos seines | ||||||
05 | Schicksals mit weiser Hand aus. Er verbirgt das Ende unserer Bestimmung | ||||||
06 | auf dieser Welt in unerforschliche Dunkelheit, macht uns durch | ||||||
07 | Triebe geschäftig, durch Hoffnung getrost und durch die glückselige Unwissenheit | ||||||
08 | des Künftigen eben so beflissen auf Absichten und Entwürfe zu | ||||||
09 | sinnen, wenn sie bald alle sollen ein Ende haben, als wenn wir uns im | ||||||
10 | Anfange derselben befänden: | ||||||
11 | Daß jeder seinen Kreis vollende, den ihm der Himmel ausersehn. | ||||||
12 | Pope. | ||||||
13 | Unter diesen Betrachtungen richtet der Weise (aber wie selten findet | ||||||
14 | sich ein solcher!) die Aufmerksamkeit vornehmlich auf seine große Bestimmung | ||||||
15 | jenseit dem Grabe. Er verliert die Verbindlichkeit nicht aus den | ||||||
16 | Augen, die ihm der Posten auferlegt, auf welchen ihn hier die Vorsehung | ||||||
17 | gesetzt hat. Vernünftig in seinen Entwürfen, aber ohne Eigensinn, zuversichtlich | ||||||
18 | auf die Erfüllung seiner Hoffnung, aber ohne Ungeduld, bescheiden | ||||||
19 | in Wünschen, ohne vorzuschreiben, vertrauend, ohne zu pochen, ist er | ||||||
20 | eifrig in Leistung seiner Pflichten, aber bereit mit einer christlichen Resignation | ||||||
21 | sich in den Befehl des Höchsten zu ergeben, wenn es ihm gefällt, | ||||||
22 | mitten unter allen diesen Bestrebungen ihn von der Bühne abzurufen, | ||||||
23 | worauf er gestellt war. Wir finden die Wege der Vorsehung allemal weise | ||||||
24 | und anbetungswürdig in den Stücken, wo wir sie einigermaßen einsehen | ||||||
25 | können; sollten sie es da nicht noch weit mehr sein, wo wir es nicht können? | ||||||
26 | Ein frühzeitiger Tod derer, von denen wir uns viel schmeichlende Hoffnung | ||||||
27 | machten, setzt uns in Schrecken; aber wie oft mag nicht dieses eben | ||||||
28 | die größte Gunst des Himmels sein! Bestand nicht manches Menschen | ||||||
29 | Unglück vornehmlich in der Verzögerung des Todes, der gar zu säumig | ||||||
30 | war, nach den rühmlichsten Auftritten des Lebens zu rechter Zeit einen | ||||||
31 | Abschnitt zu machen? | ||||||
32 | Es stirbt der hoffnungsvolle Jüngling, und wie viel Glauben | ||||||
33 | wir nicht abgebrochener Glückseligkeit bei so frühem Verluste zu vermissen? | ||||||
34 | Allein im Buche der Schicksale lautet es vielleicht anders. Verführungen, | ||||||
35 | die sich schon von fern erhoben, um eine noch nicht sehr bewährte Tugend | ||||||
36 | zu stürzen, Trübsale und Widerwärtigkeiten, womit die Zukunft drohte, | ||||||
37 | allem diesem entfloh dieser Glückselige, den ein früher Tod in einer gesegneten | ||||||
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