Kant: AA II, Gedanken bei dem ... , Seite 041 |
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01 | diesen Verlust mit schmerzlichem Beileid, ob ich gleich freilich die Größe | ||||||
02 | der Betrübniß schwerlich ausdrücken kann, die diejenige betreffen muß, | ||||||
03 | welche mit diesem hoffnungsvollen Jungen Herrn durch nähere | ||||||
04 | Bande verknüpft waren. Ew. Gnaden werden mir erlauben, daß ich zu | ||||||
05 | diesen wenigen Zeilen, dadurch ich die Achtung auszudrücken trachte, die | ||||||
06 | ich für diesen meinen ehemaligen Zuhörer gehegt habe, noch einige Gedanken | ||||||
07 | beifüge, welche bei dem gegenwärtigen Zustande meines Gemüths | ||||||
08 | in mir aufsteigen. | ||||||
09 | Ein jeder Mensch macht sich einen eigenen Plan seiner Bestimmung | ||||||
10 | auf dieser Welt. Geschicklichkeiten, die er erwerben will, Ehre und Gemächlichkeit, | ||||||
11 | die er sich davon aufs künftige verspricht, dauerhafte Glückseligkeiten | ||||||
12 | im ehelichen Leben und eine lange Reihe von Vergnügen oder | ||||||
13 | von Unternehmungen machen die Bilder der Zauberlaterne aus, die er sich | ||||||
14 | sinnreich zeichnet und lebhaft nacheinander in seinen Einbildungen spielen | ||||||
15 | läßt; der Tod, der dieses Schattenspiel schließt, zeigt sich nur in dunkeler | ||||||
16 | Ferne und wird durch das Licht, das über die angenehmere Stellen verbreitet | ||||||
17 | ist, verdunkelt und unkenntlich gemacht. Während diesen Träumereien | ||||||
18 | führt uns unser wahres Schicksal ganz andere Wege. Das Loos, | ||||||
19 | das uns wirklich zu Theil wird, sieht demjenigen selten ähnlich, was wir | ||||||
20 | uns versprachen, wir finden uns bei jedem Schritte, den wir thun, in unseren | ||||||
21 | Erwartungen getäuscht; indessen verfolgt gleichwohl die Einbildung | ||||||
22 | ihr Geschäfte und ermüdet nicht neue Entwürfe zu zeichnen, bis der Tod, | ||||||
23 | der noch immer fern zu sein scheint, plötzlich dem ganzen Spiele ein Ende | ||||||
24 | macht. Wenn der Mensch aus dieser Welt der Fabeln, davon er durch | ||||||
25 | Einbildungen selbst Schöpfer ist und darin er sich so gerne aufhält, in | ||||||
26 | diejenige durch den Verstand zurückgeführt wird, darin ihn die Vorsehung | ||||||
27 | wirklich gesetzt hat, so wird er durch einen wundersamen Widerspruch in | ||||||
28 | Verwirrung gesetzt, den er daselbst antrifft und der seine Plane gänzlich | ||||||
29 | zu nichte macht, indem er seiner Einsicht unauflösliche Räthsel vorlegt. | ||||||
30 | Aufkeimende Verdienste einer hoffnungsvollen Jugend verwelken oft frühzeitig | ||||||
31 | unter der Last schwerer Krankheiten, und ein unwillkommener Tod | ||||||
32 | durchstreicht den ganzen Entwurf der Hoffnung, darauf man gerechnet | ||||||
33 | hatte. Der Mann von Geschicklichkeit, von Verdiensten, von Reichthum | ||||||
34 | ist nicht immer derjenige, welchem die Vorsehung das weiteste Ziel des | ||||||
35 | Lebens gesteckt hat, um die Früchte von allen diesen recht zu genießen. | ||||||
36 | Die Freundschaften, die die zärtlichsten sind, die Ehen, die die meiste | ||||||
37 | Glückseligkeit versprechen, werden oft durch den frühesten Tod unerbittlich | ||||||
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