Kant: AA I, Von den Ursachen der ... , Seite 421 |
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01 | muß. Gentil*) bezeugt, daß, wenn eine Stadt ihrer größten Länge nach | ||||||
02 | durch ein Erdbeben, welches dieselbe Richtung hat, erschüttert wird, alle | ||||||
03 | Häuser umgeworfen werden, anstatt daß, wenn die Richtung in die Breite | ||||||
04 | geschieht, nur wenig umfallen. Die Ursache ist klar. Das Wanken des | ||||||
05 | Bodens bringt die Gebäude aus der senkrechten Stellung. Wenn nun eine | ||||||
06 | Reihe von Gebäuden von Osten nach Westen so in Schwankung gesetzt | ||||||
07 | wird, so hat nicht allein ein jegliches seine eigene Last zu erhalten, sondern | ||||||
08 | die westlichen drücken zugleich auf die östlichen und werfen sie dadurch unfehlbar | ||||||
09 | über den Haufen, anstatt daß, wenn sie in der Breite, wo ein jegliches | ||||||
10 | nur sein eigen Gleichgewicht zu erhalten hat, bewegt werden, bei | ||||||
11 | gleichen Umständen weniger Schaden geschehen muß. Das Unglück von | ||||||
12 | Lissabon scheint also durch seine Lage vergrößert zu sein, die es der Länge | ||||||
13 | nach an dem Ufer des Tagus gehabt hat; und nach diesen Gründen müßte | ||||||
14 | eine jede Stadt in einem Lande, wo die Erdbeben mehrmals empfunden | ||||||
15 | werden, und wo man die Richtung derselben aus der Erfahrung abnehmen | ||||||
16 | kann, nicht nach einer Richtung, die mit dieser gleichlaufend ist, angelegt | ||||||
17 | werden. Allein in dergleichen Fällen ist der größte Theil der Menschen | ||||||
18 | ganz anderer Meinung. Weil ihnen die Furcht das Nachdenken raubt, so | ||||||
19 | glauben sie in so allgemeinen Unglücksfällen eine ganz andere Art von | ||||||
20 | Übel wahrzunehmen, als diejenigen sind, gegen die man berechtigt ist Vorsicht | ||||||
21 | zu gebrauchen, und bilden sich ein, die Härte des Schicksals durch eine | ||||||
22 | blinde Unterwerfung zu mildern, womit sie sich selbigem auf Gnade und | ||||||
23 | Ungnade überlassen. | ||||||
24 | Der Hauptstrich der Erdbeben geht in der Richtung der höchsten Gebirge | ||||||
25 | fort, und es werden also diejenige Länder hauptsächlich erschüttert, | ||||||
26 | die diesen nahe liegen, vornehmlich wenn sie zwischen zwei Reihen Berge | ||||||
27 | eingeschlossen sind, als in welchem Falle die Erschütterungen von beiden | ||||||
28 | Seiten sich vereinbaren. In einem platten Lande, welches nicht in einem | ||||||
29 | Zusammenhange mit Gebirgen steht, sind sie seltener und schwach. Darum | ||||||
30 | sind Peru und Chili diejenige Länder, die fast unter allen in der Welt den | ||||||
31 | häufigsten Erschütterungen unterworfen sind. Man beobachtet daselbst die | ||||||
32 | Vorsicht die Häuser aus 2 Stockwerken zu erbaün, wovon nur das unterste | ||||||
33 | gemaürt, das oberste aber von Rohr und leichtem Holze gemacht ist, um | ||||||
*) Gentils Reise um die Welt, nach Buffons Anführung. Eben derselbe bestätigt auch, daß die Richtung der Erdbeben fast jederzeit der Richtung großer Flüsse parallel laufe. | |||||||
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