Kant: AA I, Allgemeine Naturgeschichte und ... , Seite 315 |
|||||||
Zeile:
|
Text (Kant):
|
|
|
||||
01 | Unendlichkeit! wer misset dich? | ||||||
02 | Vor dir sind Welten Tag und Menschen Augenblicke; | ||||||
03 | Vielleicht die tausendste der Sonnen wälzt jetzt sich, | ||||||
04 | Und tausend bleiben noch zurücke. | ||||||
05 | Wie eine Uhr, beseelt durch ein Gewicht, | ||||||
06 | Eilt eine Sonn' aus Gottes Kraft bewegt: | ||||||
07 | Ihr Trieb läuft ab, und eine andre schlägt, | ||||||
08 | Du aber bleibst und zählst sie nicht. | ||||||
09 | v. Haller. | ||||||
10 | Es ist ein nicht geringes Vergnügen, mit seiner Einbildungskraft | ||||||
11 | über die Grenze der vollendeten Schöpfung in den Raum des Chaos | ||||||
12 | auszuschweifen und die halb rohe Natur in der Naheit zur Sphäre | ||||||
13 | der ausgebildeten Welt sich nach und nach durch alle Stufen und | ||||||
14 | Schattirungen der Unvollkommenheit in dem ganzen ungebildeten | ||||||
15 | Raume verlieren zu sehen. Aber ist es nicht eine tadelnswürdige | ||||||
16 | Kühnheit, wird man sagen, eine Hypothese aufzuwerfen und sie als | ||||||
17 | einen Vorwurf der Ergötzung des Verstandes anzupreisen, welche vielleicht | ||||||
18 | nur gar zu willkürlich ist, wenn man behauptet, daß die Natur | ||||||
19 | nur einem unendlich kleinen Theile nach ausgebildet sei, und unendliche | ||||||
20 | Räume noch mit dem Chaos streiten, um in der Folge künftiger | ||||||
21 | Zeiten ganze Heere von Welten und Weltordnungen in aller gehörigen | ||||||
22 | Ordnung und Schönheit darzustellen? Ich bin den Folgen, die meine | ||||||
23 | Theorie darbietet, nicht so sehr ergeben, daß ich nicht erkennen sollte, | ||||||
24 | wie die Muthmaßung von der successiven Ausbreitung der Schöpfung | ||||||
25 | durch die unendliche Räume, die den Stoff dazu in sich fassen, den | ||||||
26 | Einwurf der Unerweislichkeit nicht völlig ablehnen könne. Indessen | ||||||
27 | verspreche ich mir doch von denjenigen, welche die Grade der Wahrscheinlichkeit | ||||||
28 | zu schätzen im Stande sind, daß eine solche Karte der | ||||||
29 | Unendlichkeit, ob sie gleich einen Vorwurf begreift, der bestimmt zu | ||||||
30 | sein scheint, dem menschlichen Verstande auf ewig verborgen zu sein, | ||||||
31 | nicht um deswillen sofort als ein Hirngespinst werde angesehen werden, | ||||||
32 | vornehmlich wenn man die Analogie zu Hülfe nimmt, welche uns | ||||||
33 | allemal in solchen Fällen leiten muß, wo dem Verstande der Faden | ||||||
34 | der untrüglichen Beweise mangelt. | ||||||
35 | Man kann aber auch die Analogie noch durch annehmungswürdige | ||||||
36 | Gründe unterstützen, und die Einsicht des Lesers, wofern ich mich solches | ||||||
37 | Beifalls schmeicheln darf, wird sie vielleicht mit noch wichtigern vermehren | ||||||
38 | können. Denn wenn man erwägt, daß die Schöpfung den | ||||||
[ Seite 314 ] [ Seite 316 ] [ Inhaltsverzeichnis ] |