Kant: AA I, Die Frage, ob die Erde veralte, ... , Seite 207 |
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01 | neue Erwerbungen; an statt daß, wenn die Vermuthung des | ||||||
02 | erwähnten Naturforschers gegründet wäre, sich das Gewässer immer | ||||||
03 | mehr über die Ufer ausbreiten und das trockne Erdreich unter dem | ||||||
04 | nassen Elemente begraben würde. | ||||||
05 | Was aber die Ursache der Erniedrigung der Gegenden am Ufer des | ||||||
06 | adriatischen Meeres betrifft, so wollte ich (wofern es wirklich damit seine | ||||||
07 | Richtigkeit hat, daß es nicht immer so gewesen) deshalb mich lieber an | ||||||
08 | eine Beschaffenheit des Landes wenden, die Italien vor vielen andern | ||||||
09 | besonders hat. Wir wissen nämlich: daß die Grundfeste dieses Landes | ||||||
10 | untergewölbt sei, und daß die Erdbeben, ob sie gleich vornehmlich in | ||||||
11 | dem untern Italien wüthen, dennoch auch bei dem obern ihre Gewalt | ||||||
12 | auslassen und durch ihre Erstreckung in weite Gegenden, ja sogar bis | ||||||
13 | unter die Meere hinweg die zusammenhängende unterirdische Höhlungen | ||||||
14 | zu erkennen geben. Wenn nun die Erschütterung der unterirdischen Entzündungen | ||||||
15 | die Grundfeste derselben zu bewegen vermögend ist und sie | ||||||
16 | schon oft bewegt hat, ist es nicht zu vermuthen, daß die Rinde nach | ||||||
17 | vielen heftigen Anfällen einigermaßen sich gesenkt habe und in Ansehung | ||||||
18 | der Meeresfläche könne niedriger geworden sein? | ||||||
19 | Die dritte Meinung, welche die Vermehrung des trocknen Landes | ||||||
20 | und Verringerung der Gewässer auf dem Erdboden als einen Vorboten | ||||||
21 | ihres Verderbens ansieht, hat eben so wohl anscheinende Gründe | ||||||
22 | aus der Beobachtung als die vorige, aber weniger begreifliche Ursache | ||||||
23 | sie zu erklären. Denn es ist gewiß, daß, obgleich es scheinen möchte, | ||||||
24 | das Meer, wenn es an einer Seite das feste Land gleich allmählig | ||||||
25 | trocknen läßt, bemächtige sich dafür wieder anderer Gegenden, in welche | ||||||
26 | es sich hineinarbeitet, und halte sich im Ganzen schadlos, dennoch, | ||||||
27 | wenn man es genau erwägt, weit größere Strecken von dem Meere | ||||||
28 | entblößt werden, als diejenige sind, über die es sich ausbreitet. Vornehmlich | ||||||
29 | verläßt das Meer die niedrigen Gegenden und nagt an den | ||||||
30 | hohen Ufern, weil diese seinem Anfall vornehmlich ausgesetzt sind und | ||||||
31 | die erstern selbigen durch eine gelinde Abschießigkeit vereiteln. Dieses | ||||||
32 | allein könnte einen Beweis abgeben: daß die Meeresfläche sich überhaupt | ||||||
33 | nicht mehr und mehr erhebe; denn man würde den Unterschied | ||||||
34 | am deutlichsten an den Ufern spüren, da das Land mit gringem Abfall | ||||||
35 | sich zum Boden des Meeres allmählig erniedrigt; daselbst würden | ||||||
36 | 10 Fuß Erhöhung des Wassers dem festen Lande viel abgewinnen. Da | ||||||
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