Kant: AA I, Die Frage, ob die Erde veralte, ... , Seite 208 |
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01 | es sich vielmehr ganz entgegen verhält, und, indem das Meer diejenige | ||||||
02 | Dämme, die es vordem aufgeworfen hat und über die es ohne Zweifel | ||||||
03 | damals Weg gegangen ist, nun nicht mehr erreicht, dies beweiset, daß | ||||||
04 | es seitdem niedriger geworden; wie z. E. die 2 preußische Nehrungen, | ||||||
05 | die Dünen an den holländischen und englischen Küsten nichts anders, | ||||||
06 | als Sandhügel sind, die das Meer ehedem aufgetrieben hat, die aber | ||||||
07 | anjetzt als Schutzwehren wider dasselbe dienen, nachdem solches die Höhe | ||||||
08 | nicht mehr erreicht, sie zu übersteigen. | ||||||
09 | Soll man aber, um dieses Phänomenon in seiner vollen Gültigkeit | ||||||
10 | zu lassen, zu einer wirklichen Verschwindung des flüssigen Elements | ||||||
11 | und Verwandlung desselben in einen festen Zustand, oder zu einer Versiegung | ||||||
12 | des Regenwassers in das Innere der Erde, oder zu einer stets | ||||||
13 | zunehmenden Vertiefung des Bettes der See durch dessen unaufhörliche | ||||||
14 | Bewegung seine Zuflucht nehmen? Der erstere Grund würde wohl den | ||||||
15 | mindesten Antheil an einer merklichen Veränderung haben, ob er gleich | ||||||
16 | nicht so sehr, wie es scheint, einer gesunden Naturwissenschaft widerstreitet. | ||||||
17 | Denn gleichwie andere flüssige Materien bisweilen einen festen | ||||||
18 | Stand annehmen, ohne dennoch ihr Wesen zu verlieren, z. E. Quecksilber, | ||||||
19 | welches in den Versuchen des Boerhaave die Gestalt eines rothen | ||||||
20 | Pulvers annimmt, die Luft, die Hales in allen vegetabilischen Productis , | ||||||
21 | vornehmlich dem Weinstein, als einen festen Körper angetroffen | ||||||
22 | hat, so thut ohne Zweifel dieses das Wasser gleichfalls, dessen Theile | ||||||
23 | in der Bildung der Pflanzen ihre Flüssigkeit abzulegen scheinen, so | ||||||
24 | daß das allerausgetrocknetste zerriebene Holz bei chemischer Auflösung | ||||||
25 | doch immer Wasser von sich giebt, woraus es nicht unwahrscheinlich | ||||||
26 | wird: daß ein Teil der Gewässer des Erdbodens zu der Bildung der | ||||||
27 | Gewächse verwandt wird und nimmer in das Meer zurückkehrt. Allein | ||||||
28 | zum wenigsten kann diese Abnahme nicht merklich werden. Der zweite | ||||||
29 | Grund kann gleichfalls in absolutem Verstande nicht in Abrede gezogen | ||||||
30 | werden. Das Regenwasser, welches die Erde in sich zieht, sinkt | ||||||
31 | zwar in dieser nur vornehmlich so tief, bis es etwas dichtere Schichten | ||||||
32 | findet, die es nicht durchlassen und es nöthigen nach dem Abhange | ||||||
33 | derselben einen Ausgang zu suchen und Quellen zu unterhalten. Allein es | ||||||
34 | wird jederzeit etwas von demselben durch alle Schichten bis zu den | ||||||
35 | felsichten sich hinunterseigen und auch in diesen durch ihre Ritze dringen | ||||||
36 | und diejenige unterirdische Wasser sammlen, welche bei Gelegenheit | ||||||
37 | einiger Erdbeben zuweilen hervorgebrochen sind und Länder überschwemmt | ||||||
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