Kant: AA I, Die Frage, ob die Erde veralte, ... , Seite 206 |
|||||||
Zeile:
|
Text (Kant):
|
|
|
||||
01 | obgleich er doch noch mit ihr behutsamer handelt als Hartsöcker, | ||||||
02 | der aus der gleichen Beobachtung beim Rheinstrom der Erde das Schicksal | ||||||
03 | ankündigt, daß innerhalb 10000 Jahren ihr bewohnbarer Theil | ||||||
04 | müsse weggespült sein, das Meer alles bedecken und nichts als die kahle | ||||||
05 | Felsen aus demselben hervorragen; woraus man sich auf den Grad des | ||||||
06 | Verfalls in einer etwas mindern Zeit, z. E. von 2000 Jahren, leichtlich | ||||||
07 | die Rechnung machen kann. | ||||||
08 | Der wahre Fehler dieser Meinung besteht nur in dem mehr oder | ||||||
09 | Weniger; sonst ist sie im Grunde richtig. Es ist an dem, daß der | ||||||
10 | Regen und die Flüsse das Erdreich abspülen und ins Meer führen; | ||||||
11 | allein es ist weit gefehlt, daß sie es in so großem Grade thun sollten, | ||||||
12 | als der Verfasser vermuthet. Er nahm willkürlich an, daß die Ströme | ||||||
13 | das ganze Jahr über so trübe fließen, als sie es in denjenigen Tagen | ||||||
14 | thun, da der von den Gebirgen abthauende Schnee die heftige Gießbäche | ||||||
15 | verursacht, welche das Erdreich anzugreifen die volle Gewalt haben, | ||||||
16 | und da das Erdreich selber völlig durchnetzt und durch die vorige Winterkälte | ||||||
17 | mürbe genug geworden, um so leicht als möglich weggespült zu | ||||||
18 | werden. Wenn er diese Behutsamkeit zugleich mit der Aufmerksamkeit | ||||||
19 | verbunden hätte, die er auf den Unterschied der Flüsse hätte haben | ||||||
20 | sollen, deren diejenige, die von Gebirgen unterhalten werden, wegen | ||||||
21 | der Gewalt der Gießbäche, welche sich in sie vergießen, mehr geraubte | ||||||
22 | Erde als andere, die von dem platten Lande ernährt werden, in sich | ||||||
23 | halten, so würde sich seine Rechnung so sehr verringert haben, daß er | ||||||
24 | den Anschlag vermuthlich hätte fahren lassen, die Erklärung der beobachteten | ||||||
25 | Veränderungen darauf zu gründen. Wenn man endlich hiebei | ||||||
26 | noch erwägt: daß das Meer durch eben diese Bewegung, weswegen | ||||||
27 | man ihm beimißt, daß es nichts Todtes bei sich leide, nämlich durch | ||||||
28 | die beständige Abführung aller Materie, die nicht gleichen Grad der | ||||||
29 | Beweglichkeit hat, an die Ufer, diesen Schlamm nicht auf seinem Grunde | ||||||
30 | sich häufen lasse, sondern ihn unverzüglich an das feste Land absetze | ||||||
31 | und es damit vermehre: so würde die Furcht, den Schlauch des Meeres | ||||||
32 | damit ausgefüllt zu sehen, sich in eine gegründete Hoffnung verwandelt | ||||||
33 | haben, durch den Raub der hohen Gegenden an den Seeufern beständig | ||||||
34 | neu Land zu überkommen; denn in der That, in allen Meerbusen, z. E. | ||||||
35 | in demjenigen, so den Namen des rothen Meeres führt, imgleichen im | ||||||
36 | Venetianischen Golfo, zieht sich das Meer von der Spitze allmählig zurück, | ||||||
37 | und das trockene Land macht an dem Reiche des Neptuns beständig | ||||||
[ Seite 205 ] [ Seite 207 ] [ Inhaltsverzeichnis ] |