| Kant: Briefwechsel, Brief 89, Von Iohann Georg Hamann. | |||||||
| 
 | 
 | 
 
 | 
 
 | ||||
| Von Iohann Georg Hamann. | |||||||
| April 1774. | |||||||
| Erlauben Sie mir, HöchstzuEhrender Herr Profeßor, mit der aufrichtigen | |||||||
| Versicherung anzufangen und fortzufahren, daß ich der freundschaftlichen | |||||||
| Mittheilung Ihrer Gedanken unendlich viel zur Entwickelung | |||||||
| meiner impliciten Begriffe, Eindrücke und Ideen zu verdanken habe. | |||||||
| So wahr ist es, daß Sprache und Schrift die unumgänglichste | |||||||
| Organa und Bedingungen alles menschlichen Unterrichts sind, wesentlicher | |||||||
| und absoluter, wie das Licht zum Sehen, und der Schall zum | |||||||
| Hören - Bey jenen Gesinnungen meiner Erkenntlichkeit werden Sie | |||||||
| auch gegenwärtiger katanthropischen Antwort keinen Tück des Herzens | |||||||
| zuschreiben, noch wie der Apostel über den Zauberer zu Samaria ausruffen: | |||||||
| "Ich sehe, daß du bist voller bitterer Galle und verknüpft mit | |||||||
| Ungerechtigkeit" | |||||||
| Wenn des Verf. Thema darauf hinausgienge das Ens entium zum | |||||||
| Archi=Encyklopädisten oder +GLG PAN + (wie ihn Sirach XLIII. 29. kurtz | |||||||
| und gut genannt haben soll) mit einer sieben fachen Flöte, zu machen. | |||||||
| so weiß ich noch nicht, ob ich der Palingenesie einer vergrabenen Urkunde | |||||||
| mehr Glauben beymeßen würde als Vernunftgründen und | |||||||
| biblischen Sprüchen - die freylich in Ansehung des willkührl. | |||||||
| Misbrauchs sich einander nichts vorzuwerfen haben. Vielleicht würde | |||||||
| ich jenen Edelstein in Thesauro Brandenburgico, auf dem Beger | |||||||
| "einen Iupiter zeigt, welcher einen philosophischen Mantel trägt" wie | |||||||
| ich vor ein paar Abenden gelesen, einer verschimmelten Urkunde vorziehn, | |||||||
| die das Ens Entium zum ersten offentlichen Lehrer des Menschl. Geschlecht | |||||||
| in der Encyclopaedie individualisirte. | |||||||
| So sehr mir auch noch immer an dem Thema und der Hauptfrage | |||||||
| ob der Autor im Grunde Recht oder Unrecht habe, gelegen | |||||||
| ist: so will ich mich doch gegenwärtig blos auf die zwey mir gegebene | |||||||
| Puncte, näml. des Sinns jener ältesten vermeintlichen Urkunde | |||||||
| und des vermeintl. Beweises davon aus der Uebereinstimmung | |||||||
| des gantzen uns bekannten Tradition=Systems | |||||||
| einschränken. | |||||||
| Mein Freund D. Lindner komt mit dem lieben Büchlein nicht | |||||||
| aus der Stelle, weil das darinn verborgene Opium, sagt er, seinem | |||||||
| Magen wiedersteht - anstatt es zuverschlucken wie jener alte Preuße | |||||||
| sein bloßes Meßer, oder es wie ein Wallfisch jenen alten Propheten | |||||||
| und unsere neuesten Rabbinen Cameele samt ihren Höckern v. Frachten | |||||||
| zu verschlingen. Da mein Gedächtnis stärker, als gewöhnlich scheint | |||||||
| ausgedünstet zu haben - - so muß ich mich gantz generalissime | |||||||
| erklären. | |||||||
| Das II. Hauptglied meiner kleinen Analyse wiederspricht gar nicht | |||||||
| der Meynung des Autors, sondern sucht vielmehr anstatt seinen Canon | |||||||
| aufzulösen, selbigen vollständiger zu machen, und ihn selbst dazu | |||||||
| anzuhalten. | |||||||
| Seinem eigenen Urtheil nach, und in meinen Augen übertrift | |||||||
| unsre älteste Urkunde an Einfalt und Evidentz jene vertrauliche Relation | |||||||
| des Cäsars: veni, vidi, vici , und freylich ist ein solcher Sieg keines | |||||||
| Triumphs werth gewesen. | |||||||
| Daher gieng mein Beyfall allein auf die Theorie und AuslegungsMethode, | |||||||
| worinn mir der Verf. vorzüglich scheint orthodox zu seyn. | |||||||
| Dieser Ruhm ist freylich an sich selbst leichter als die Luft, aber zugleich | |||||||
| von so unerkanntem und unermäslichem Gewicht, wie der elastische | |||||||
| Druck ihrer Säulen berechnet wird. | |||||||
| Denn Orthodoxie ist das einzige Verdienst eines Lehrers, der als | |||||||
| Lehrer gar nicht zur eignen Ausübung seiner Vorschriften verbunden | |||||||
| ist. Lehrt er Irrsaal und thut Wahrheit: so gewinnt er für sich selbst | |||||||
| als Thäter, sündigt aber an seinem Leser, Zuhörer und Schüler, der | |||||||
| erst lernen soll und weder richten kann noch darf, ja nicht einmal | |||||||
| will oder mag, wenn er bescheiden und moralisch denkt. Alle practische | |||||||
| Vergehungen eines Autors gegen sein eigene Grundsätze, wenn | |||||||
| selbige richtig u. fest, sind meines Erachtens Menschlichkeiten, bisweilen | |||||||
| Nothwendigkeiten, vielleicht gar Tugenden, falls er wie | |||||||
| jener zwar ungerechte doch kluge Haushalter damit zu wuchern weiß, | |||||||
| und können daher eben nicht gantz verdammlich seyn. | |||||||
| Ueberhaupt ist die Wahrheit von so abstracter und geistiger Natur, | |||||||
| das sie nicht anders als in abstracto, ihrem Element, gefast werden | |||||||
| kann. In concreto aber erscheint sie entweder als Wiederspruch oder | |||||||
| ist jener berühmte Stein unsrer Weisen, wodurch urplötzlich jedes unreife | |||||||
| Mineral und selbst Stein und Holtz in wahres Gold verwandelt | |||||||
| wird. | |||||||
| Was den zweiten Punct des vermeintlichen Beweises aus der | |||||||
| Correspondentz mit den Archiven der Völker betrifft: so gelingt es | |||||||
| vielleicht nur einem großen Newton Gesandschaften um den Erdball | |||||||
| zu einem Beweise seiner Vernunftgründe aufzuwiegeln, unter deßen | |||||||
| es dem armen Archimedes immer an einem Standort gefehlt die | |||||||
| Zeichen und Wunder seines Hebels sehn zu laßen. Ohne jenen | |||||||
| Katholischen Beweis aus der Einheit der VölkerStimmen und der | |||||||
| Identität unsers Fleisches und Bluts, ohne einen Dietrich zu den | |||||||
| Archiven lebender Wilden und zu den Reliquien bereits verklärter | |||||||
| Nationen, scheint es mir bey dem unverdächtigsten und reinsten Document | |||||||
| des Menschl. Geschlechts, das durch den wol= und wunderthätigen | |||||||
| Aberglauben eines ewigen Bündeljuden scheint erhalten worden zu | |||||||
| seyn, blos auf den einfachsten Gesichtspunct an [zu kommen], um gleich | |||||||
| seinem großen und unbekannten Urheber Hiob XXXVI. 26. zu seyn, | |||||||
| was es ist, und dafür von jedermännlich erkannt zu werden. | |||||||
| Unter allen Secten, die für Wege zur Glückseeligkeit, zum | |||||||
| Himmel und zur Gemeinschaft mit dem Ente Entium oder dem allein | |||||||
| weisen Encyklopädisten des Menschlichen Geschlechts ausgegeben worden, | |||||||
| wären wir die elendeste unter allen Menschen, wenn die Grundveste | |||||||
| unsers Glaubens in einem Triebsande kritischer ModeGelehrsamkeit | |||||||
| bestünde. Nein, die Theorie der wahren Religion bleibt nicht nur | |||||||
| jedem Menschenkinde angemeßen und ist in seine Seele gewebt oder | |||||||
| kann darinn wiederhergestellt werden, sondern bleibt auch eben so | |||||||
| unersteiglich den kühnsten Riesen und Himmelsstürmern als unergründlich | |||||||
| den tiefsinnigsten Grüblern und Bergleuten. | |||||||
| Ich werde daher auch bei wiederholter Lesung und Zergliederung | |||||||
| der neuesten Auslegung über die älteste Urkunde jenem Wahlspruch | |||||||
| meines ersten Lieblingsdichters treu bleiben | |||||||
| - - MINIMVM est, quod scire laboro . Pers. Sat. II. so wie | |||||||
| ich bereits zum Motto meiner Abhandlung die Worte Iosephs ausgesucht | |||||||
| hatte Gen. XL. 8, | |||||||
| Auslegen gehört GOTT zu - - | |||||||
| Meine treuherzige Anerbietung Sie, HöchstzuEhrender Herr Professor, | |||||||
| zum arbitro eines etwas elegantern Versuchs zu machen, als es mir | |||||||
| bisher fügl. gewesen, war weder Spaß noch hatte die geringste Rücksicht | |||||||
| auf die mir untergeschobene Nebenbegriffe: so wie ich unter dem | |||||||
| Actien=System gegen nichts hämisch gewesen als den nikolaitischen | |||||||
| Uebermuth kritischer Verleger nach der Elle des Ladens und der | |||||||
| mißißipischen Liebhaberey eines blinden verführten Publici das innere | |||||||
| Schrot und Korn eines Buchs zu entscheiden - | |||||||
| "Steht er schon da gegen Ihn, der dichtgeschloßene Phalanx | |||||||
| der Meister philistinischer, arabischer u. kretischer Gelehrsamkeit | |||||||
| - Du siehst die Schatten der Berge für einen dicht | |||||||
| geschloßenen Phalanx an Iudic. IX. 36. | |||||||
| "Siehe! mir hat geträumet, hör ich in den Gezelten. VII. 13. Mich | |||||||
| daucht ein geröstet Gerstenbrodt wältzte sich zum dicht geschloßenen | |||||||
| Phalanx - | |||||||
| "Da antwortete der andere - warum nicht gar unser Freund, | |||||||
| der Buchdrucker zu Marienwerder? Das ist nichts anders als die | |||||||
| 3 Federn des Mamamuschi, seine Gansfeder, seine Schwanfeder und | |||||||
| seine Rabenfeder - - | |||||||
| Da ich aber unmöglich ohne Censur und Verleger ein Schriftsteller | |||||||
| werden kann, es wäre denn nach der Weise Melchisedechs, ohne | |||||||
| Vater, ohne Mutter, ohne Geschlecht - nun so muß ich wie Herders, | |||||||
| mein und Lavaters Freund! ein Philosoph seyn und schweigen bey | |||||||
| dieser, dieser neuen Zeit, und selbst meine bisherigen Prolegomena | |||||||
| über die neueste Auslegung der ältesten Urkunde am heutigen | |||||||
| Dominica Quasimodo a. c. mit dem Machtspruch des großen Kunstrichters | |||||||
| und Krypto=Philologen P. P. der gewiß ein Liebhaber der | |||||||
| Wahrheit und Unschuld war, wie aus seiner Quaestione Academica | |||||||
| und typischen Händewaschen zu ersehen, vollenden und schließe: | |||||||
| Quod scripsi, scripsi! ! | |||||||
| [ abgedruckt in : AA X, Seite 161 ] [ Brief 88 ] [ Brief 90 ] [ Gesamtverzeichnis des Briefwechsels ] | |||||||