Kant: Briefwechsel, Brief 819, Von Christian Garve. |
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| Von Christian Garve. | |||||||
| [Mitte September 1798.] | |||||||
| Theuerster Freund, | |||||||
| Ich habe alles, was sich auf die Schrift, welche ich Ihnen widme, | |||||||
| und mit diesem Briefe überschicke, bezieht, und das was meine Gesinnungen | |||||||
| gegen Sie betrifft, in der Zueignungsschrift selbst so vollständig | |||||||
| gesagt, daß ich hier nichts hinzuzusetzen habe. | |||||||
| Ich werde Sie immer als einen unserer größten Denker, und der | |||||||
| mich selbst, zur Zeit als ich nur noch Lehrling und Anfänger war, | |||||||
| als Meister der Kunst zu denken, darin übte, hochachten. Ich bin | |||||||
| von der andern Seite überzeugt, daß Sie auch von mir, so weit man | |||||||
| einen Mann bloß aus seinen Schriften kennen lernen kann, nicht ungünstig | |||||||
| urtheilen, und selbst eine Neigung zur Freundschaft gegen mich | |||||||
| fühlen. | |||||||
| Diese verborgne und stillschweigende Verbindung, welche schon | |||||||
| lange unter uns vorhanden ist, gegen das Ende unsers Lebens noch | |||||||
| fester zu knüpfen: dazu ist diese Zueignung bestimmt. Kann ich auch | |||||||
| davon keinen großen oder langen Genuß mehr hoffen; so wird doch | |||||||
| auch dieß mich freuen, wenn ich es noch erlebe, Ihr Urtheil über diese | |||||||
| kleine Schrift, welche die Resultate vieler meiner Meditationen zusammengedrängt | |||||||
| enthält, erfahre, und wenn ich zugleich von Ihren freundschaftlichen | |||||||
| Gesinnungen versichert werde. | |||||||
| Ich wünschte zwar auch, Ihr Urtheil über die neuesten Fortschritte, | |||||||
| welche einige Ihrer Schüler, besonders Fichte, glauben, in der Philosophie, | |||||||
| seit der Erscheinung der Critik gemacht zu haben, zu wissen. | |||||||
| Aber Sie können billige Ursachen haben, warum Sie weder öffentlich | |||||||
| noch in Privatbriefen ein entscheidendes Urtheil darüber fällen wollen. | |||||||
| Ich selbst bin nur sehr oberflächlich davon unterrichtet. Ich habe die | |||||||
| Schwierigkeiten der Critik überwunden; und ich bin im Ganzen, dafür | |||||||
| belohnt worden. Aber ich habe nicht das Herz noch die Kraft, mich | |||||||
| den noch weit größern Schwierigkeiten zu unterziehen, welche mir die | |||||||
| Lectüre der Wissenschaftslehre machen würde. Ietzt macht meine täglich | |||||||
| wachsende Krankheit mir solche überfeine Speculationen ohnedie | |||||||
| unmöglich. Ich würde Ihnen hier meinen Zustand schildern, der gewisser | |||||||
| Maßen eben so merkwürdig und sonderbar als kläglich ist: aber | |||||||
| eine genaue Beschreibung desselben würde ein weitläuftiges Werk seyn, | |||||||
| wozu es mir an Kräften gebricht; und ohne Genauigkeit, wozu kann | |||||||
| eine solche Schilderung dienen? Ein äußerer Schaden, der vor ungefähr | |||||||
| dreyzehn Iahren, sehr unschuldig scheinend, am rechten Nasenflügel, | |||||||
| nicht weit vom Augenwinkel entstand, - der eigentlich nicht Krebs | |||||||
| nach allen Symptomen, aber darin vollkommen krebsartig ist, daß er | |||||||
| sich nicht bloß nach der Oberfläche sondern im kubischen Verhältnisse | |||||||
| erweitert, u. eben so tief aushöhlt als weit er sich ausbreitet, und der | |||||||
| endlich allen Heilmitteln widerstand, zu welchen freylich der Nachbarschaft | |||||||
| des Auges wegen keine ätzenden Mittel, vielleicht die wirksamsten | |||||||
| in solchen Fällen, gebraucht werden konnten: - dieser Schaden hat | |||||||
| nunmehr das ganze rechte Auge und einen Theil der rechten Wange | |||||||
| verzehrt, hat eine ebenso große Höhle in den Kopf gebohrt und Zerstöhrungen | |||||||
| einer seltnen Art angerichtet. Es scheint unmöglich, da | |||||||
| ein Mensch dabey leben könne; es scheint noch unmöglicher, daß er dabey | |||||||
| denken, und selbst mit einem gewissen Scharfsinn und einer ExAltation | |||||||
| des Gemüthes denken könne: und doch ist beydes wahr. Dieser unwahrscheinliche | |||||||
| aber glückliche Umstand hat mir, der ich von Schwäche | |||||||
| u. Schmerz wechselsweise geplagt u. von der menschlichen Gesellschaft | |||||||
| entfernt bin, die vorzüglichste Erleichterung und den Trost meines Lebens | |||||||
| verschafft. Nie habe ich die Schönheit eines Verses, die Bündigkeit | |||||||
| eines Räsonnements und die Annehmlichkeit einer Erzählung deutlicher | |||||||
| wahrgenommen und mit mehr Vergnügen empfunden. | |||||||
| Aber wie klein bleibt bey allem diesen der Ersatz für die Leiden, | |||||||
| welche ich von Zeit zu Zeit auszustehen habe! und wie lange werde | |||||||
| ich diesen Kampf noch kämpfen müssen! | |||||||
| Sie haben von der Macht des Gemüths über den Schmerz und | |||||||
| selbst über Krankheiten in Ihrem Briefe an Hufeland, geredet. Ich | |||||||
| bin vollkommen darüber mit Ihnen einig, und weiß es aus eigner | |||||||
| Erfahrung, daß das Denken eine Heilkraft habe. Aber dieses Mittel | |||||||
| lässt sich nicht bey Allen auf gleiche Weise anwenden. Einige, zu welchen | |||||||
| auch Sie gehören, helfen ihrem Uebel dadurch ab, daß sie ihre | |||||||
| Aufmerksamkeit davon abwenden. Ich habe den meinigen, zB. Zahnschmerzen, | |||||||
| dadurch am besten abhelfen können, indem ich meine Aufmerksamkeit | |||||||
| darauf concentrirt, u. an nichts als an meinen Schmerz | |||||||
| gedacht habe. Aber solche äußere Uebel, wie das an welchem ich jetzt | |||||||
| leide, sind der Macht des Gemüths am wenigsten unterworfen; und | |||||||
| wie es scheint ganz mechanisch u. körperlich. Doch sie sind der Macht | |||||||
| der Vorsehung und des Weltregierers unterworfen. Dieser erhalte | |||||||
| Ihnen die Gesundheit und die Kräfte, deren Sie bisher in einem hohen | |||||||
| Alter genossen haben. Er bringe mich mit erträglichen Schmerzen zum | |||||||
| Ziele meines Lebens; da eine frühere Befreyung von denselben unmöglich | |||||||
| ist. Ich bin mit dem aufrichtigsten Herzen | |||||||
| Ihr | |||||||
| ergebener Freund | |||||||
| C Garve | |||||||
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