| Kant: Briefwechsel, Brief 67, An Marcus Herz. | |||||||
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| An Marcus Herz. | |||||||
| 7. Iuni 1771. | |||||||
| Werthester Freund | |||||||
| Was dencken Sie von meiner Nachläßigkeit im Correspondiren? | |||||||
| Was denkt Ihr Mentor, HE Mendelsson und HE Pr: Lambert davon. | |||||||
| Gewiß diese wackere Leute müssen sich vorstellen daß ich sehr unfein | |||||||
| seyn müsse die Bemühung welche sie sich in ihren Briefen an mich | |||||||
| geben so schlecht zu erwiedern und verdenken könte ich es ihnen | |||||||
| freylich nicht wenn sie sich aufs künftige vorsetzten sich niemals mehr | |||||||
| durch meine Zuschrift diese Bemühung ablocken zu lassen. Wenn indessen | |||||||
| die innere Schwierigkeit die man selbst fühlt anderer Augen auch | |||||||
| eben so klar werden könte so hoffe ich sie würden alles in der Welt | |||||||
| eher als Gleichgültigkeit und Mangel an Achtung wie die Ursache | |||||||
| davon vermuthen. Ich bitte Sie darum benehmen Sie diesen würdigen | |||||||
| Männern einen solchen Verdacht oder kommen Sie ihm zuvor; denn | |||||||
| auch ietzt gilt noch eben die Hindernis die meinen Aufschub so lange | |||||||
| verursacht hat. Es sind aber der Ursachen, ohne die Unart zu rechnen | |||||||
| daß der nächste Posttag immer vor beqvemer gerechnet wird als der | |||||||
| gegenwärtige, eigentlich zwey. Solche Briefe als dieienige sind mit | |||||||
| denen ich von diesen beyden Gelehrten bin beehret worden flechten | |||||||
| mich in eine lange Reihe von Untersuchungen ein. Daß vernünftige | |||||||
| Einwürfe von mir nicht blos von der Seite angesehen werden wie sie | |||||||
| zu wiederlegen seyn könten sondern daß ich sie iederzeit beym Nachdenken | |||||||
| unter meine Urtheile webe und ihnen das Recht lasse alle | |||||||
| vorgefaßte Meinungen die ich sonst beliebt hatte über den Haufen zu | |||||||
| werfen, das wissen sie. Ich hoffe immer dadurch daß ich meine Urtheile | |||||||
| aus dem Standpunkte anderer unpartheyisch ansehe etwas drittes | |||||||
| herauszubekommen was besser ist als mein vorigtes. Uberdem ist sogar | |||||||
| der bloße Mangel der Überzeugung bey Männern von solcher Einsicht | |||||||
| mir iederzeit ein Beweis daß es meinen Theorien wenigstens an | |||||||
| Deutlichkeit evidentz oder gar an etwas wesentlichern fehlen müsse. | |||||||
| Nun hat mich eine lange Erfahrung davon belehrt daß die | |||||||
| Einsicht in unsern Vorhabenden Materien gar nicht könne erzwungen | |||||||
| und durch Anstrengung beschleunigt werden sondern eine ziemlich | |||||||
| lange Zeit bedürfe da man mit Intervallen einerley Begriff in allerley | |||||||
| Verhältnissen und in so weitläuftigen Zusammenhange betrachtet als | |||||||
| möglich ist und vornemlich auch damit zwischen inne der skeptische | |||||||
| Geist aufwache und versuche ob das ausgedachte gegen die schärfsten | |||||||
| Zweifel Stich halte. Auf diesen Fuß habe ich die Zeit welche ich | |||||||
| mir auf Gefahr einen Vorwurf der Unhöflichkeit zu verdienen aber in | |||||||
| der That aus Achtung vor die Urtheile beyder Gelehrten gegeben habe | |||||||
| wie ich meyne wohl genutzt. Sie wissen welchen großen Einflus die | |||||||
| gewisse und deutliche Einsicht in den Unterschied dessen was auf | |||||||
| subiectivischen principien der menschlichen Seelenkräfte nicht allein der | |||||||
| Sinnlichkeit sondern auch des Verstandes beruht von dem was gerade | |||||||
| auf die Gegenstände geht in der gantzen Weltweisheit ja so gar auf | |||||||
| die wichtigsten Zwecke der Menschen überhaupt habe. Wenn man | |||||||
| nicht von der Systemensucht hingerissen ist so verificiren sich auch einander | |||||||
| die Untersuchungen die man über eben dieselbe Grundregel in | |||||||
| der weltläuftigsten Anwendung anstellt. Ich bin daher ietzo damit | |||||||
| beschäftigt ein Werk welches unter dem Titel: Die Grentzen der | |||||||
| Sinnlichkeit und der Vernunft das Verhältnis der vor die | |||||||
| Sinnenwelt bestimten Grundbegriffe und Gesetze zusammt dem Entwurfe | |||||||
| dessen was die Natur der Geschmackslehre, Metaphysick u. Moral ausmacht | |||||||
| enthalten soll etwas ausführlich auszuarbeiten. Den Winter | |||||||
| hindurch bin ich alle Materialien dazu durchgegangen, habe alles | |||||||
| gesichtet gewogen an einander gepaßt bin aber mit dem Plane dazu | |||||||
| nur erst kürzlich fertig geworden. | |||||||
| Meine zweyte Ursache muß Ihnen als einem Artze noch | |||||||
| gültiger seyn nemlich daß da meine Gesundheit merklich gelitten hat | |||||||
| es unumganglich nöthig sey meiner Natur Vorschub zu thun sich | |||||||
| allmälig zu erholen und um deswillen alle Anstrengungen eine Zeitlang | |||||||
| auszusetzen und nur immer die Augenblicke der guten Laune zu nutzen | |||||||
| die übrige Zeit aber der Gemächlichkeit und kleinen Ergötzlichkeiten zu | |||||||
| widmen. Dieses und der tägliche Gebrauch der Chinarinde seit dem | |||||||
| October vorigten Iahres haben selbst nach dem Urtheil meiner Bekanten | |||||||
| mir schon sichtbarlich aufgeholfen. Ich zweifle nicht daß Sie eine Nachläßigkeit | |||||||
| nach Grundsätzen der Arzneykunst nicht gantz misbilligen werden. | |||||||
| Ich erfahre mit Vergnügen daß sie im Begriffe seyn eine Ausarbeitung | |||||||
| von der Natur der spekulativen Wissenschaften in Druck zu | |||||||
| geben. Ich sehe ihr mit Sehnsucht entgegen und da sie früher als | |||||||
| meine Schrift fertig werden wird so kan ich noch allerley Wincke die | |||||||
| ich vermuthlich da antreffen werde mir zu Nutze machen. Das Vergnügen | |||||||
| was ich an dem Beyfall den vermuthlich ihr erster offentlicher | |||||||
| Versuch erhalten wird empfinden werde, hat, ob es zwar ingeheim | |||||||
| keinen geringen Gehalt von Eitelkeit haben mag doch einen starken | |||||||
| Geschmak einer uneigennützigen uud freundschaftlichen Theilnehmung. | |||||||
| HE. Kanter hat meine dissertation an welcher ich nichts habe ändern | |||||||
| mögen nachdem ich den Plan zu der vollständigern Ausführung in den | |||||||
| Kopf bekommen ziemlich spät und nur in geringer Zahl so gar ohne solche | |||||||
| dem Meßcatalogus einzuverleiben auswärtig verschickt. Weil diese der | |||||||
| text ist worüber das Weitere in der folgenden Schrift soll gesagt werden, | |||||||
| weil auch manche abgesonderte Gedanken darin vorkommen welche ich | |||||||
| schwerlich irgend anzuführen gelegenheit haben dürfte und doch die | |||||||
| dissertation mit ihren Fehlern keiner neuen Auflage würdig scheint so | |||||||
| verdrießt es mich etwas daß diese Arbeit so geschwinde das Schicksal | |||||||
| aller menschlichen Bemühungen nemlich die Vergessenheit erdulden | |||||||
| müssen. | |||||||
| Können Sie sich überwinden zu schreiben ob Sie gleich nur | |||||||
| selten Antworten erhalten so wird ihr weitläuftigster Brief meiner | |||||||
| China gute Beyhülfe zur Frühlingscur geben. Ich bitte HEn. | |||||||
| Mendelssohn und HEn. Lambert meine Entschuldigungen und die | |||||||
| Versicherungen meiner größten Ergebenheit zu machen. Ich denke | |||||||
| daß wenn mein Magen allmählig seine Pflicht thun wird auch meine | |||||||
| Finger nicht verabsäumen werden die ihrige zu erfüllen. Ich begleite | |||||||
| alle Ihre Unternehmungen mit den Wünschen eines | |||||||
| Koenigsberg | aufrichtigtheilnehmenden Freundes | ||||||
| d. 7. Jun: 1771. | Immanuel Kant. | ||||||
| [ abgedruckt in : AA X, Seite 121 ] [ Brief 66 ] [ Brief 68 ] [ Gesamtverzeichnis des Briefwechsels ] | |||||||