| Kant: Briefwechsel, Brief 63, Von Moses Mendelssohn. | |||||||
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| Von Moses Mendelssohn. | |||||||
| 25. Dec. 1770. | |||||||
| Hochedelgebohrner Herr! | |||||||
| Insonders Hochzuehrender Herr Professor! | |||||||
| Herr Marcus Herz der sich durch Ihren Unterricht, und, wie er | |||||||
| mich selbst versichert, noch mehr durch Ihren weisen Umgang, zum | |||||||
| Weltweisen gebildet hat, fährt rühmlich auf der Laufbahn fort, die er | |||||||
| unter Ihren Augen zu betreten angefangen. So viel meine Freundschaft | |||||||
| zu seinem guten Fortkommen beytragen kan, wird ihm nicht | |||||||
| entstehen. Ich liebe ihn aufrichtig, und habe das Vergnügen fast | |||||||
| täglich seines sehr unterhaltenden Umgangs zu genießen. Es ist wahr, | |||||||
| die Natur hat viel für ihn gethan. Er besitzet einen hellen Verstand, | |||||||
| ein weiches Herz, eine gemäßigte Einbildungskrafft, und eine gewisse | |||||||
| Subtiligkeit des Geistes, die der Nation natürlich zu seyn scheinet. | |||||||
| Allein welch ein Glük für ihn, daß eben dise Naturgaben so frühzeitig | |||||||
| den Weg zum Wahren und Guten geführt worden sind. Wie | |||||||
| mancher, der dises Glük nicht gehabt hat, ist in dem unermeßlichen | |||||||
| Raume von Warheit und Irrthum sich selbst überlassen geblieben, und | |||||||
| hat seine edle Zeit und seine besten Kräffte, durch hundert vergebliche | |||||||
| Versuche, verzehren müssen, dergestalt daß ihm am Ende beides Zeit | |||||||
| und Kräffte fehlen, auf dem Wege fortzufahren, den er, nach langem | |||||||
| Herumtappen, endlich gefunden hat. Hätte ich vor meinem zwanzigsten | |||||||
| Iahre einen Kant zum Freunde gehabt! | |||||||
| Ihre Dissertation habe ich mit der größten Begierde in die | |||||||
| Hande genommen, und mit recht vielem Vergnügen durchgelesen, | |||||||
| ob ich gleich seit Iahr und Tag, wegen meines mehr geschwächten | |||||||
| Nervensystems, kaum im Stande bin, etwas spekulatives von diesem | |||||||
| Werthe, mit gehöriger Anstrengung durch zu denken. Man siehet, | |||||||
| dise kleine Schrift ist die Frucht von sehr langen Meditationen, und | |||||||
| muß als ein Theil eines ganzen Lehrgebäudes angesehen werden, das | |||||||
| dem Verf. eigen ist, und wovon er vor der Hand nur einige Proben | |||||||
| hat zeigen wollen. Die anscheinende Dunkelheit selbst, die an einigen | |||||||
| Stellen zurük geblieben ist, verräth einem geübten Leser, die Beziehung | |||||||
| auf ein Ganzes, das ihm noch nicht vorgelegt worden ist. Indessen | |||||||
| wäre, zum Besten der Metaphysik, die leider! itzt so sehr gefallen ist, | |||||||
| zu wünschen, daß Sie den Vorrath Ihrer Meditationen uns nicht zu | |||||||
| lange vorenthielten. Das menschliche Leben ist kurz, und wie leicht | |||||||
| überrascht uns das Ende, indem wir immer den Vorsatz haben, es noch | |||||||
| besser zu machen. Und warum scheuen Sie es auch so sehr, etwas | |||||||
| zu wiederholen, das schon vor Ihnen gesagt worden ist? In Verbindung | |||||||
| mit denen Ihnen eigenen Gedanken erscheinet das Alte selbst doch | |||||||
| immer von einer neuen Seite, und bietet Aussichten dar, an die noch | |||||||
| nicht gedacht worden ist. Da Sie übrigens vorzüglich das Talent | |||||||
| besitzen, für viele Leser zu schreiben; so hoffet man, daß Sie Sich | |||||||
| nicht immer auf die wenige Adepten einschränken werden, die sich nur | |||||||
| nach dem Neuen umsehen, und aus dem halbgesagten das Verschwiegene | |||||||
| zu errathen wissen. | |||||||
| Da ich mich nicht ganz zu diesen Adepten zehle; so wage ich | |||||||
| es nicht, Ihnen die Gedanken alle mitzutheilen, die Ihre Dissert. | |||||||
| bey mir veranlasset hat. Erlauben Sie mir nur diejenigen herzusetzen, | |||||||
| die mehr Nebenbetrachtungen, als Ihre Hauptideen angehen. | |||||||
| Seite 2. 3. - Aehnliche Gedanken vom Unendlichen in der ausgedehnten | |||||||
| Größe, obgleich nicht so scharfsinnig ausgeführt, finden sich | |||||||
| in der zwoten Auflage der Philosophischen Schrifften, die itzt | |||||||
| unter der Presse ist, und davon ich die Ehre haben werde ein Exemplar | |||||||
| zu übersenden. Herr Herz kan bezeugen, daß alles schon zum Drucke | |||||||
| fertig war, als ich Ihre Schrifft zu sehen bekam. Auch habe ich ihm | |||||||
| gleich Anfangs mein Vergnügen darüber zu erkennen gegeben, da | |||||||
| ein Mann von Ihrem Gewichte mit mir in diesem Punkte einstimmig | |||||||
| denket. | |||||||
| Seite 11. Den Lord Shaftesbury zehlen Sie zu denen, die dem | |||||||
| Epikur wenigstens von ferne folgen. Ich habe bisher geglaubt, man | |||||||
| müsse den moralischen Instinkt des Lords von der Wollust des Epikurs | |||||||
| sorgfältig unterscheiden. Ienes ist dem Engländer blos ein angebohrnes | |||||||
| Vermögen, das Gute und Böse durch das bloße Gefühl zu | |||||||
| unterscheiden. Dem Epikur aber sollte die Wollust nicht nur criterium | |||||||
| boni, sondern Sumum bonum selbst seyn. | |||||||
| Seite 15. quid significet vocula post etc. Diese Schwierigkeit | |||||||
| scheinet mehr die Armuth der Sprache, als die Unrichtigkeit des | |||||||
| Begriffes zu beweisen. Das Wörtlein post bedeutet zwar ursprünglich | |||||||
| eine Zeitfolge; allein man kan auch überhaupt dadurch die Ordnung | |||||||
| anzeigen, in welcher zwey wirkliche Dinge A und B vorhanden sind, | |||||||
| davon A nicht anders seyn kan, als wenn, oder indem, B nicht ist. | |||||||
| Mit einem Worte, die Ordnung, in welcher zwey, sich schlechterdings, | |||||||
| oder auch hypothetisch widersprechende Dinge, dennoch vorhanden seyn | |||||||
| können. - Sie werden sagen, das wenn oder indem, das ich nicht | |||||||
| vermeiden kan, setzet abermals die Idee der Zeit voraus? - Nun | |||||||
| gut! so wollen wir denn, wenn Sie meinen, auch diesem Wortlein ausweichen. | |||||||
| Ich fange mit folgender Worterklärung an: | |||||||
| A und B beide wirklich, und von Einem Grunde C die | |||||||
| unmittelbare (oder auch gleichweit entfernte) Folge ( rationata ), | |||||||
| nenne ich hypothetisch verträgliche Dinge ( compossibilia secundum | |||||||
| quid ); sind sie aber ungleich weit entfernte Folgen oder rationata | |||||||
| so nenne ich sie hypothetisch unverträglich. | |||||||
| Nun fahre ich fort: | |||||||
| Die hypothetisch verträglichen Dinge (Dinge, die auch in diser | |||||||
| Welt compossibilia sind) sind gleichzeitig, simultanea; die | |||||||
| hypothetisch unverträglichen Actualia aber folgen auf einander, | |||||||
| und zwar das nähere rationatum gehet voran, das entfernte | |||||||
| folget. | |||||||
| Hier ist, wie ich hoffe, kein Wort, das die Idee der Zeit voraussetzet. | |||||||
| Allenfalls wird es mehr in der Sprache, als in den Gedanken | |||||||
| liegen. | |||||||
| Daß die Zeit etwas blos Subjektives seyn sollte, kan ich mich | |||||||
| aus mehrern Gründen nicht bereden. Die Succeßion ist doch | |||||||
| wenigstens eine nothwendige Bedingung der Vorstellungen endlicher | |||||||
| Geister. Nun sind die endlichen Geister nicht nur Subjekte, sondern | |||||||
| auch Objekte der Vorstellungen, so wohl Gottes, als ihrer Mitgeister. | |||||||
| Mithin ist die Folge auf einander, auch als etwas objektives anzusehen. | |||||||
| Da wir übrigens in den vorstellenden Wesen und ihren Veränderungen | |||||||
| eine Folge zugeben müssen, warum nicht auch in dem | |||||||
| sinnlichen Objekte, Muster und Vorbild der Vorstellungen, in der Welt? | |||||||
| Wie Sie (Seite 17) in dieser Art, sich die Zeit vorzustellen, einen | |||||||
| fehlerhaften Zirkel finden, begreiffe ich nicht. Die Zeit ist (nach | |||||||
| Leibnitzen) ein Phaenomenon, und hat, wie alle Erscheinungen, etwas | |||||||
| Objektives und etwas Subjektives. Das Subjektive davon ist die | |||||||
| Continuität, die man sich dabey vorstellet; das Objektive hingegen, ist | |||||||
| die Folge der Veränderungen, die von einem Grunde gleichweit entfernte | |||||||
| rationata sind. | |||||||
| Seite 23. Ich glaube, die Bedingung eodem tempore sey bey | |||||||
| dem Satze des Widerspruches so nothwendig nicht. In so weit es | |||||||
| dasselbe Subjekt ist, können auch zu verschiedenen Zeiten A und non A nicht | |||||||
| von ihm aus gesagt werden, und mehr wird zum Begriffe des Unmöglichen | |||||||
| nicht erfordert, als dasselbe Subjekt zweyer Praedicatorum | |||||||
| A und non A. Man kan auch sagen: impossibile est, non A | |||||||
| praedicatum de subjecto A . | |||||||
| Ich würde mich nicht erkühnt haben, Ew. HochEdelgeboh. Schrifft | |||||||
| mit solcher Freymüthigkeit zu beurtheilen, wenn mir nicht Hr. Herz | |||||||
| Ihre wahre philosophische Gemüthsart zu erkennen, und die Versicherung | |||||||
| gegeben hätte, daß Sie weit entfernt sind, eine solche Offenherzigkeit | |||||||
| übel zu nehmen. So selten dieser Charakter unter den Nachbetern | |||||||
| zu finden ist; so pflegt er doch gemeiniglich ein Unterscheidungszeichen | |||||||
| selbstdenkender Köpfe zu seyn. Wer selbst erfahren hat, wie schwehr | |||||||
| es ist die Warheit zu finden, und sich davon zu überzeigen, daß man | |||||||
| sie gefunden habe, der ist allezeit geneigter gegen diejenigen tollerant | |||||||
| zu seyn, die anders denken, als er. Ich habe die Ehre mit der vollkommensten | |||||||
| Hochachtung zu seyn, | |||||||
| Ew. HochEdelgeboh. | |||||||
| Meines Hochzuehrenden Herrn Professors | |||||||
| Berlin d. 25. Dec. | dienstwilligst ergebenster Diener | ||||||
| 1770. | Moses Mendelssohn. | ||||||
| [ abgedruckt in : AA X, Seite 113 ] [ Brief 62 ] [ Brief 63a ] [ Gesamtverzeichnis des Briefwechsels ] | |||||||