| Kant: Briefwechsel, Brief 61, Von Iohann Heinrich Lambert. | |||||||
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| Von Iohann Heinrich Lambert. | |||||||
| 13. Oct. 1770. | |||||||
| HochEdelgebohrner Herr! | |||||||
| Euer HochEdelgeb. Schreiben nebst Dero Abhandlung von der | |||||||
| sinnlichen und Gedankenwelt gereichte mir zu nicht geringem Vergnügen, | |||||||
| zumal da ich letztere als eine Probe anzusehen habe, wie die | |||||||
| Metaphysic und sodann auch die Moral verbessert werden könnte. | |||||||
| Ich wünsche sehr daß die euer HochEdelgb. aufgetragene Stelle Denselbe[n] | |||||||
| zu fernern solchen Aufsätzen Anlaß geben möge, dafern Sie nicht | |||||||
| den Entschluß faßen, sie besonders herauszugeben. | |||||||
| Euer HochEdelgeb. erinnern mich an die bereits vor 5 Iahren | |||||||
| gethane Äußerung von vielleicht künftigen gemeinschaftlichen | |||||||
| Ausarbeitungen. Ich schrieb damals eben dieses an Hrn. Holland, | |||||||
| und würde es nach und nach an einige andere Gelehrten geschrieben | |||||||
| haben, wenn nicht die Meßcatalogi gezeigt hätten, daß die schönen | |||||||
| Wißenschaften alles übrige verdrengen. Ich glaube indeßen, daß sie | |||||||
| vorbeyrauschen, Und daß man auch wieder zu den gründlichern Wißenschaften | |||||||
| zurücke kehren wird. Es haben mir hier bereits einige, die | |||||||
| auf Universitäten nur Gedichte, Romanen und Litteraturschriften | |||||||
| durchlasen, gestanden, daß als sie Geschäfte übernehmen mußten, sie | |||||||
| sich in einem ganz neuen Lande befunden und gleichsam von neuem | |||||||
| studiren mußten. Solche können nun sehr guten Rath geben, was | |||||||
| auf Universitaeten zu thun ist. | |||||||
| Mein Plan war inzwischen theils selbst kleine Abhandlungen in | |||||||
| Vorrath zu schreiben, theils einige Gelehrte von ähnlicher Gedenkensart | |||||||
| dazu einzuladen, und dadurch gleichsam eine Privatgesellschaft zu | |||||||
| errichten, wo alles was öffentliche Gelehrte Gesellschaften nur allzuleicht | |||||||
| verderbt, vermieden würde. Die eigentlichen Mitglieder wären eine | |||||||
| kleine Zahl ausgesuchter Philosophen gewesen, die aber in der Physic | |||||||
| und Mathematick zugleich hätten müßen bewandert seyn, weil meines | |||||||
| Erachtens ein purus putus metaphysicus so beschaffen ist, als wenn | |||||||
| es ihm an einem Sinn, wie den Blinden am sehen, fehlt. Dieser | |||||||
| Gesellschaft Mitglieder hätten sich ihre Schriften oder wenigstens einen | |||||||
| hinlänglichen Begriff davon mitgetheilt, um sich allenfalls nachhelfen | |||||||
| zu laßen, wo mehr Augen mehr als eines würden gesehen | |||||||
| haben. Im Fall aber jeder bey seiner Meynung würde geblieben | |||||||
| seyn, so hätte auch mit behöriger Bescheidenheiten und mit dem | |||||||
| Bewußtseyn, daß man sich doch irren könnte, jeder seine Meynung | |||||||
| können drucken laßen. Die philosophischen Abhandlungen so wie auch | |||||||
| die von der Theorie der Sprachen Und schönen Wißenschaften würden | |||||||
| die häufigsten gewesen seyn, physische und mathematische hätten allenfalls | |||||||
| auch mitgenommen werden können, besonders, wenn sie näher an | |||||||
| das philosophische grenzten. | |||||||
| Besonders hätte der erste Band vorzüglich sein müssen, und man | |||||||
| hätte wegen zu erwartender Beyträge immer die Freyheit behalten, | |||||||
| solche allenfalls zurücke zu senden, wenn die Mehrheit der Stimmen dawider | |||||||
| gewesen wäre. Die Mitglieder hätten sich in schweren Materien | |||||||
| ihre Meynungen fragsweise oder auf solche Art mittheilen können, | |||||||
| daß sie zu Einwendungen und Gegenantworten freyen Raum ließen. | |||||||
| Euer HochEdelgeb. können mir auch noch dermalen melden, wiefern | |||||||
| Sie eine solche Gesellschaft als etwas Mögliches ansehen, das allenfalls | |||||||
| Gelehrten waren. Die Bremische Beyträge, worinn die dermaligen | |||||||
| Originaldichter Gellert, Rabener, Klopstock etc. ihre Versuche bekannt | |||||||
| machten und sich gleichsam bildeten, können ein zweytes Beyspiel seyn. | |||||||
| Das bloß philosophische scheint mehrere Schwürigkeiten zu haben. | |||||||
| Es würde aber freylich auf eine gute Wahl der Mitglieder ankommen. | |||||||
| Die Schriften müßten von allem heretischen und allzueigensinnigen | |||||||
| oder allzuunerheblichen frey bleiben. | |||||||
| Inzwischen habe ich einige Abhandlungen, die ich zu einer solchen | |||||||
| Sammlung hätte wiedmen können, theils in die Acta eruditorum | |||||||
| gegeben, theils hier bey der Academie vorgelesen, theils auch zu solchen | |||||||
| Abhandlungen gehörigen Gedanken bey andern Veranlassungen bekannt | |||||||
| gemacht. | |||||||
| Ich wende mich aber nun zu Dero vortreflichen Abhandlung, da | |||||||
| Euer HochEdelgeb. besonders darüber meine Gedanken zu wißen | |||||||
| wünschen. Wenn ich die Sache recht verstanden habe, so ligen dabey | |||||||
| einige Sätze zum Grunde, die ich so kurz als möglich hier auszeichnen | |||||||
| werde. | |||||||
| Der erste Hauptsatz ist: daß die Menschliche Erkenntnis, so | |||||||
| fern sie theils Erkenntnis ist, theils eine ihr eigene Form hat, | |||||||
| sich in der Alten Phaenomenon und Noumenon zerfälle, und nach | |||||||
| dieser Eintheilung aus zwo ganz verschiedenen und so zu sagen | |||||||
| heterogenen Quellen entspringe, so daß was aus der eine[n] Quelle | |||||||
| kömmt niemals aus der andern hergeleitet werden kann. Die von den | |||||||
| Sinnen herrührende Erkenntnis ist und bleibt also sinnlich, so wie die | |||||||
| vom Verstande herrührende demselben eigen bleibt. | |||||||
| Bey diesem Satze ist es meines Erachtens fürnehmlich um die | |||||||
| Allgemeinheit zu thun, wiefern nemlich diese beyden Erkenntnisarten | |||||||
| so durchaus Separirt sind, daß sie nirgends zusammentreffen. | |||||||
| Soll dieses a priori bewiesen werden, so muß es aus der Natur | |||||||
| der Sinnen und des Verstandes geschehen. Dafern wir aber diese | |||||||
| a posteriori erst müßen kennen lernen, so wird die Sache auf die | |||||||
| Classification und Vorzählung der Obiecte ankommen. | |||||||
| Dieses scheint auch der Weg zu seyn, den Euer HochEdelgeb. | |||||||
| in dem 3ten Abschnitte genommen. In dieser Absicht scheint es mir | |||||||
| ganz richtig zu seyn, daß was an Zeit und Ort gebunden ist, | |||||||
| Wahrheiten von ganz anderer Art darbietet, als diejenige sind, die | |||||||
| als ewig und unveränderlich angesehen werden müßen. Dieses merkte ich | |||||||
| Alethiol. § 81. 87. bloß an. Denn der Grund, warum Wahrheiten, | |||||||
| so und nicht anders an Zeit und Ort gebunden sind, ist nicht so | |||||||
| leicht herauszubringen, so wichtig er an sich auch seyn mag. | |||||||
| Übrigens war daselbst nur von existirenden Dingen die Rede. | |||||||
| Es sind aber die Geometrische und Chronometrischen Wahrheiten nicht | |||||||
| zufällig sondern ganz wesentlich an Zeit und Raum gebunden, und | |||||||
| sofern die Begriffe von Zeit und Raum ewig sind, gehören die | |||||||
| Geometrischen und Chronometrischen Wahrheiten mit unter die ewigen | |||||||
| unveränderlichen Wahrheiten. | |||||||
| Nun fragen Euer Hochedelgeb. ob diese Wahrheiten sinnlich sind? | |||||||
| Ich kann es ganz wohl zugeben. Es scheint, daß die Schwürigkeit, | |||||||
| so in den Begriffen von Zeit und Ort ligt, ohne Rücksicht auf diese | |||||||
| Frage vorgetragen werden könne. Die vier ersten Sätze § 14 scheinen | |||||||
| mir ganz richtig, und besonders ist es sehr gut, daß Euer HochEdelgeb. | |||||||
| im 4ten auf den wahren Begriff der Continuitaet dringen, der | |||||||
| in der Metaphysic so viel als ganz verlohren gegangen zu seyn schien, | |||||||
| weil man ihn bey einem Complexus Entium simplicium durchaus | |||||||
| anbringen wollte, und ihn daher verändern mußte. Die Schwürigkeit | |||||||
| ligt nun eigentlich in dem 5ten Satze. Euer HochEdelgeb. geben zwar | |||||||
| den Satz: Tempus est subiectiua conditio etc . nicht als eine Definition | |||||||
| an. Er soll aber doch etwas der Zeit eigenes und wesentliches anzeigen. | |||||||
| Die Zeit ist unstreitig eine Conditio sine qua non , und so | |||||||
| gehört sie mit zu der Vorstellung sinnlicher und jeder Dinge die an | |||||||
| Zeit und Ort gebunden sind. Sie ist auch besonders den Menschen | |||||||
| zu dieser Vorstellung nöthig. Sie ist auch ein Intuitus purus , keine | |||||||
| Substanz, kein bloßes Verhältnis. Sie differiert von der Dauer wie | |||||||
| der Ort von dem Raume. Sie ist eine besondere Bestimmung der | |||||||
| Dauer. Sie ist auch kein accidens, das mit der Substanz wegfällt etc. | |||||||
| Diese Sätze mögen alle angehen. Sie führen auf keine Definition, | |||||||
| und die beste Definition wird wohl immer die seyn, daß Zeit Zeit ist, | |||||||
| dafern man sie nicht, und zwar auf eine sehr mißliche Art, durch ihre | |||||||
| Verhältnisse zu den Dingen die in der Zeit sind, definiren, und damit | |||||||
| einen logischen Circul mit unterlaufen lassen will. Die Zeit ist ein | |||||||
| bestimterer Begriff als die Dauer, und daher gibt sie auch mehr | |||||||
| verneinende Sätze. Z. E. was in der Zeit ist, dauert. Aber nicht | |||||||
| umgekehrt, so fern man zum in der Zeit seyn einen Anfang und | |||||||
| Ende fordert. Die Ewigkeit ist nicht in der Zeit, weil ihre Dauer | |||||||
| absolut ist. Eine Substanz, die eine absolute Dauer hat, ist ebenfalls | |||||||
| nicht in der Zeit. Alles was existirt dauert, aber nicht alles ist in | |||||||
| der Zeit. etc. Bey einem so klaren Begriff wie die Zeit ist, fehlt es | |||||||
| an Sätzen nicht. Es scheint nur daran zu ligen, daß man Zeit und | |||||||
| Dauer nicht definiren sondern schlechthin nur denken muß. Alle Veränderungen | |||||||
| sind an die Zeit gebunden und laßen sich ohne Zeit nicht | |||||||
| gedenken. Sind die Veränderungen real so ist die Zeit real, | |||||||
| was sie auch immer seyn mag. Ist die Zeit nicht real so ist auch | |||||||
| keine Veränderung real. Es däucht mich aber doch, daß auch | |||||||
| selbst ein Idealiste wenigstens in seinen Vorstellungen Veränderungen, | |||||||
| wie Anfangen und Aufhören derselben zugeben muß, das wirklich vorgeht | |||||||
| und existirt. Und damit kann die Zeit nicht als etwas nicht | |||||||
| reales angesehen werden. Sie ist keine Substanz etc. aber eine | |||||||
| endliche Bestimmung der Dauer, und mit der Dauer hat sie etwas | |||||||
| reales, worinn dieses auch immer bestehen mag. Kann es mit keinem | |||||||
| von andern Dingen hergenommenen Namen ohne Gefahr von Mißverstand | |||||||
| benennt werden, so muß es entweder ein neugemachtes | |||||||
| Primitivum zum Namen bekommen, oder unbenennt bleiben. Das reale | |||||||
| der Zeit und des Raumes scheint so was einfaches und in Absicht | |||||||
| auf alles übrige heretogenes zu haben, daß man es nur denken aber | |||||||
| nicht definiren kann. Die Dauer scheint von der Existenz unzertrennlich | |||||||
| zu seyn. Was existirt dauert entweder absolut oder eine Zeit lang, | |||||||
| und hinwiderum was dauert, muß so lang es dauert nothwendig vorhanden | |||||||
| seyn. Existirende Dinge von nicht absoluter Dauer sind nach | |||||||
| der Zeit geordnet, sofern sie anfangen, fortdauern, sich ändern, aufhören | |||||||
| etc. Da ich den Veränderungen die Realität nicht absprechen | |||||||
| kann, bevor ich nicht eines andern belehrt werde, so kann | |||||||
| ich noch dermalen auch nicht sagen, daß die Zeit und so auch der | |||||||
| Raum nur ein Hülfsmittel zum Behuf der menschlichen Vorstellungen | |||||||
| sey. Was übrigens die in Ansehung der Zeit in den Sprachen übliche | |||||||
| Redensarten betrift, so ist es immer gut, die Vieldeutigkeiten anzumerken, | |||||||
| die das Wort Zeit darinn hat. Z. E. | |||||||
| Eine lange Zeit ist Intervallum temporis vel duorum momentorum | |||||||
| und bedeutet eine bestimmte Dauer. | |||||||
| Und diese Zeit, zu dieser Zeit etc. ist entweder ein bestimter | |||||||
| größere etwas unbestimmte Dauer, oder Zeitpunct etc. | |||||||
| Euer HochEdelgeb. werden leicht vermuthen, wie ich nun in Ansehung | |||||||
| des Orts und des Raumes denke. Ich setze die Analogie | |||||||
| Zeit: Dauer - Ort: Raum | |||||||
| die Vieldeutigkeiten der Wörter bey Seite gesetzt, nach aller Schärfe, | |||||||
| und ändere sie nur darinn, daß der Raum 3 die Dauer 1 Dimension, | |||||||
| und überdiß jeder dieser Begriffe etwas eigenes hat. Der Raum | |||||||
| hat wie die Dauer etwas Absolutes und auch endliche Bestimmungen. | |||||||
| Der Raum hat wie die Dauer eine ihm eigene Realität, die durch von | |||||||
| andern Dingen hergenommene Wörter ohne Gefahr des Mißverstandes | |||||||
| nicht anzugeben noch zu definiren ist. Sie ist etwas einfaches, und | |||||||
| muß gedacht werden. Die ganze Gedankenwelt gehört nicht zum | |||||||
| Raum, sie hat aber ein Simulachrum des Raumes, welches sich vom | |||||||
| physischen Raume leicht unterscheidet, vielleicht noch eine nähere als | |||||||
| nur eine metaphorische Ähnlichkeit mit derselben hat. | |||||||
| Die theologische Schwürigkeiten, die besonders seit Leibnizens | |||||||
| und Clarkens Zeiten die Lehre vom Raum mit Dornen angefüllt | |||||||
| haben, haben mich bißher in Ansehung dieser Sache noch nicht irre | |||||||
| gemacht. Der ganze Erfolg bey mir ist, daß ich verschiedenes lieber | |||||||
| unbestimmt laße, was nicht klar gemacht werden kann. Übrigens wollte | |||||||
| ich in der Ontologie nicht nach den folgenden Theilen der Metaphysic | |||||||
| hinschielen. Ich laße es ganz wohl geschehen, wenn man Zeit und | |||||||
| Raum als bloße Bilder und Erscheinungen ansieht. Denn außer da | |||||||
| beständiger Schein für uns Wahrheit ist, wobey das zum Grunde | |||||||
| ligende entweder gar nie oder nur künftig entdeckt wird; so ist es in | |||||||
| der Ontologie nützlich, auch die vom Schein geborgte Begriffe vorzunehmen, | |||||||
| weil ihre Theorie zuletzt doch wider bey den | |||||||
| Phaenomenis angewandt werden muß. Denn so fängt auch der Astronome | |||||||
| beym Phaenomeno an, leitet die Theorie des Weltbaues daraus | |||||||
| her, und wendet sie in seinen Ephemeriden wieder auf die Phaenomena | |||||||
| und deren Vorherverkündigung an. In der metaphysic, wo die | |||||||
| Schwürigkeit vom Schein so viel Wesens macht, wird die Methode | |||||||
| des Astronommen wohl die sicherste seyn. Der Metaphysiker kann alles | |||||||
| als Schein annehmen, den leeren vom reellen absöndern, aus dem | |||||||
| reellen auf das wahre schließen. Und fährt er damit gut, so wird er | |||||||
| wegen der Principien wenige Widersprüche und überhaupt Beyfall | |||||||
| finden. Nur scheint es, daß hiezu Zeit und Gedult nöthig sey. | |||||||
| In Ansehung des 5ten Abschnittes werde ich dermalen kurz seyn. | |||||||
| Ich sehe es als etwas sehr wichtiges an, wenn Euer HochEdelgeb. | |||||||
| Mittel finden können, in den an Zeit und Ort gebundenen Wahrheiten | |||||||
| tiefer auf ihren Grund und Ursprung zu sehen. Sofern aber | |||||||
| dieser Abschnitt auf die Methode geht, so fern habe ich das vorhin | |||||||
| von der Zeit gesagte, auch hier zu sagen. Denn sind die Veränderungen | |||||||
| und damit auch die Zeit und Dauer etwas reelles, | |||||||
| so scheint zu folgen, daß die im 5ten Abschnitt vorgeschlagene | |||||||
| Absönderung andere und theils näher bestimmte Absichten | |||||||
| haben müße, und diesen gemäß dürfte sodann auch die Classification | |||||||
| anders zu treffen seyn. Dieses gedenke ich bei dem § 25. 26. In | |||||||
| Ansehung des § 27. ist das Quicquid est, est alicubi et aliquando , | |||||||
| theils irrig theils vieldeutig, wenn es soviel sagen will als in tempore | |||||||
| et in loco. Was absolute dauert ist nicht in tempore, und die Gedankenwelt | |||||||
| ist nur in loco des vorhin erwähnten Simulachri des Raumes | |||||||
| oder in loco des Gedankenraums. | |||||||
| Was Euer HochEdelgb. § 28, so wie in der Anmerkung S. 2. 3. | |||||||
| vom Mathematischen Unendlichen sagen, daß es in der Metaphysic | |||||||
| durch Definitionen verdorben und ein anderes dafür eingeführt worden, | |||||||
| hat meinen völligen Beyfall. In Ansehung des § 28. erwähnten | |||||||
| Simul esse et non esse , denke ich, daß auch in der Gedankenwelt ein | |||||||
| Simulachrum temporis vorkomme, und das Simul daher entlehnt sey, | |||||||
| wenn es bey Beweisen absoluter Wahrheiten vorkömmt, die nicht an | |||||||
| Zeit und Ort gebunden sind. Ich dächte, das Simulacrum spatii et | |||||||
| temporis in der Gedankenwelt, könnte bey Dero vorhabenden Theorie | |||||||
| ganz wohl mit in Betrachtung kommen. Es ist eine Nachbildung des | |||||||
| wirklichen Raums und der wirklichen Zeit, und läßt sich davon ganz | |||||||
| wohl unterscheiden. Wir haben an der Symbolischen Kenntnis noch | |||||||
| ein Mittelding zwischen dem empfinden und wirklichen reinen Denken. | |||||||
| Wenn wir bey Bezeichnung des einfachen und der Zusammensetzungsart | |||||||
| richtig verfahren, so erhalten wir dadurch sichere Regeln, Zeichen | |||||||
| von so sehr zusammengesetzten Dingen heraus zu bringen, daß wir sie | |||||||
| nicht mehr überdenken können, und doch versichert sind, daß die | |||||||
| Bezeichnung Wahrheit vorstellt. Noch hat sich niemand alle Glieder | |||||||
| einer unendlichen Reyhe zugleich deutlich vorgestellt und niemand wird | |||||||
| es künftig thun. Daß wir aber mit solchen Reyhen rechnen, die Summ | |||||||
| davon angeben können etc. das geschieht vermög der Gesetze der | |||||||
| Symbolischen Erkenntnis. Wir reichen damit weit über die Grenzen | |||||||
| unseres wirklichen Denkens hinaus. Das Zeichen √-1 stellt ein | |||||||
| nicht gedenkbares Unding vor, und doch kann es Lehrsätze zu finden | |||||||
| sehr gut gebraucht werden. Was man gewöhnlich als Proben des | |||||||
| reinen Verstandes ansieht, wird meistens nur als Proben der symbolischen | |||||||
| Erkenntnis anzusehen seyn. Dieses sagte ich § 122. Phaenomenol. | |||||||
| bey Anlaß der Frage § 119. Und ich habe nichts dawider, daß Euer | |||||||
| HochEdelgeb. § 10 die Anmerkung ganz allgemein machen. | |||||||
| Iedoch ich werde hier abbrechen, und das Gesagte Euer HochEdelgeb. | |||||||
| beliebigem Gebrauche überlaßen. Ich bitte indeßen, die in | |||||||
| diesem Schreiben unterstrichene Sätze genau zu prüfen, und wenn Sie | |||||||
| dazu Zeit nehmen wollen, ohne auf das Porto zu sehen, mir Dero | |||||||
| Urtheil zu melden. Bißher habe ich der Zeit und dem Raume noch | |||||||
| nie alle Realitaet absprechen noch sie zu bloßen Bildern und Schein | |||||||
| machen können. Ich denke daß jede Veränderungen auch bloßer Schein | |||||||
| seyn müßten. Dieses wäre einem meiner Hauptgrundsätze (§ 54 | |||||||
| Phaenom.) zuwider. Sind also Veränderungen real, so eigne ich | |||||||
| auch der Zeit eine Realitaet zu. Veränderungen folgen auf einander, | |||||||
| fangen an, fahren fort, hören auf etc. lauter von der Zeit hergenommene | |||||||
| Ausdrücke. Können Euer HochEdelgeb. mich hierinn eines andern | |||||||
| belehren, so glaube ich nicht viel zu verliehren. Zeit und Raum | |||||||
| werden reeller Schein seyn, wobey etwas zum Grunde ligt, das sich so | |||||||
| genau und beständig nach dem Schein richtet, als genau und beständig | |||||||
| die geometrischen Wahrheiten immer seyn mögen. Die Sprache des | |||||||
| Scheins wird also eben so genau statt der unbekannten wahren Sprache | |||||||
| dienen. Ich muß aber doch sagen, daß ein so schlechthin nie triegender | |||||||
| Schein wohl mehr als nur Schein seyn dürfte. | |||||||
| Ich vermuthe, daß wohl auch Haude und Spenersche Zeitungen | |||||||
| von hier nach Königsberg kommen werden. Ich werde demnach hier | |||||||
| nur noch kurz berühren, daß ich in No. 116 vom 27 Sept. a. c. dem | |||||||
| Publico zu sagen veranlaßt worden bin, wie sich bereits jemand gefunden, | |||||||
| der die in meinen Zusätzen zu den log. und trigon. Tabellen | |||||||
| befindliche Tafel der Theiler der Zahlen biß auf 204 000 und allenfalls | |||||||
| noch weiter ausdehnen wird, und daß ein anderer die log. hyperbol. | |||||||
| biß auf viele Decimalstellen zu berechnen vorgenommen. Dieses notificirte | |||||||
| ich, damit diese Arbeit nicht etwann doppelt sondern die | |||||||
| Berechnung anderer noch ganz rückständiger Tabellen vorgenommen | |||||||
| werden. Es gibt hin und wider Liebhaber der Mathematick, die | |||||||
| gern rechnen. Und ich habe Ursache zu hoffen, daß die Einladung, | |||||||
| die auch in der allg. D. Bibl. in den Gottingischen Anzeigen und in | |||||||
| den Leipziger gel. Zeitungen stehen wird, nicht ohne Frucht seyn | |||||||
| werde. Sollten Euer HochEdelgeb. in dortigen Gegenden jemand | |||||||
| finden, der zu solchen Berechnungen Lust hätte, so würde es mir sehr | |||||||
| angenehm seyn. Ein Verleger bezahlt zwar die Zeit und Mühe nicht | |||||||
| nach Verdienst, und ich werde für den Bogen schwerlich mehr als | |||||||
| einen Ducaten herausbringen. Was aber auch immer erfolgt, davon | |||||||
| verlange ich nichts, sondern jeder wird seinen Antheil allenfalls vom | |||||||
| Verleger selbst beziehen können. Wer sich übrigens zu Berechnung | |||||||
| der noch rückständigen Tabellen zuerst angibt, wird, wie billig, wenn | |||||||
| er Proben seiner Fähigkeit vorzeigt, die Auswahl haben. Und so | |||||||
| habe ich bereits jemanden, der sich unter der Hand angebothen und | |||||||
| entweder selbst rechnen oder rechnen lassen wird, die Wahl gelassen. | |||||||
| Vielleicht steigt die Tafel der Theiler der Zahlen bis auf 1 000 000, | |||||||
| und dürfte allein zween Octavbände ausmachen. | |||||||
| Ich habe die Ehre mit wahrer Hochachtung zu seyn | |||||||
| Euer Wohlgeb. | |||||||
| Berlin den 13 Oct. 1770. | Ergebenster Diener | ||||||
| I H Lambert | |||||||
| [ abgedruckt in : AA X, Seite 103 ] [ Brief 60 ] [ Brief 62 ] [ Gesamtverzeichnis des Briefwechsels ] | |||||||