| Kant: Briefwechsel, Brief 276, Von Ludwig Heinrich Iakob. | |||||||
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| Von Ludwig Heinrich Iakob. | |||||||
| Halle den 17 Iul. 1786 | |||||||
| Verehrungswürdiger Herr Professor, | |||||||
| Ihr Brief vom 26 Mai hat mir ungemein viele Freude gemacht, | |||||||
| besonders, da die Seiten voll Gedanken so sehr mit den meinigen harmonirten, | |||||||
| u. ich erkante wenigstens daraus, daß ich die Ihrigen richtig | |||||||
| gefaßt hatte. In der That hatte ich während der Zeit der Abreise | |||||||
| des HE. Garve meine ganze Prüfung der Morgenstunden schon geendet. | |||||||
| Uberaus angenehm war mir aber das Versprechen von Ew. | |||||||
| Wohlgeb. die Stelle auf S. 116 zu berichtigen. Denn ob gleich für | |||||||
| mich selbst die Stelle gar nichts Unauflösbares enthält, u. ob ich schon | |||||||
| glaube ihr selbst schon den Sinn angewiesen zu haben, der ihr gebührt | |||||||
| u. das Ungegründete darinnen aufgedeckt zu haben; so freuet es mich | |||||||
| doch gar sehr, Sie selbst mit im Spiele zu sehen, u. vielleicht Ihre | |||||||
| Bestätigung und bessere Erläuterung meines Urteils, das Sie überdem | |||||||
| schon veranlaßt haben, zu erhalten. Sie wissen, daß einem obskuren | |||||||
| Menschen, wie ich bin, der Eintritt in die gelehrte Welt schwer wird, | |||||||
| u. es muß mir sehr schmeichelhaft sein, in der Begleitung eines so | |||||||
| hochgeschätzten Mannes zu erscheinen. Es wäre unverschämt, wenn ich | |||||||
| von Ihnen mehr begehren wollte, als Ihre blosse Begleitung, da Sie | |||||||
| weder meine Schrifften noch mich selbst gesehen haben. Aber ich | |||||||
| wünschte theils der guten Sache wegen, theils (o, warum sollt ich dis | |||||||
| verhelen?) meiner selbst wegen, daß Sie Ihr Wort nicht zurücknähmen. | |||||||
| Damit Sie es aber nicht mit einem ganz Unbekannten zu thun haben, | |||||||
| so nehme ich mir die Freiheit, Ihnen den Plan meines Buchs in der | |||||||
| Kürze mitzutheilen: Ich glaubte, bevor ich zur Prüfung des Mendelss. | |||||||
| Buchs selbst käme, die Leser erst mit dem System bekannt machen zu | |||||||
| müßen, aus welchem ich meine Gründe schöpfen wollte. Auf die Kritik | |||||||
| konnte ich mich nicht berufen, weil sie immer noch zu wenig gelesen | |||||||
| worden ist, um sie zum voraus zu setzen. Uberdem schien es mir nicht | |||||||
| ganz unnütz zu sein, die Resultate der Kritik faßlich zu machen, um | |||||||
| dadurch die Begierde auf das Buch selbst zu erregen u. durch Deutlichkeit | |||||||
| des Vortrags das Vorurteil des Schweren und Unbegreiflichen | |||||||
| zu zerstören. Denn HE E. sagt immer noch laut, daß er Sie nicht | |||||||
| verstehe und schreckt dadurch alle Iunge Leute vom Lesen ab. Besonders | |||||||
| schien mir es zum Zwecke nothwendig, den Unterschied der | |||||||
| Erscheinungen u. der Dinge an sich recht begreiflich zu machen, weil davon | |||||||
| die Untersuchung aller ontologischen Begriffe abhängt, wenn man ihre | |||||||
| Ausdehnung oder Einschränkung bestimmen will. Die Deducktion der | |||||||
| Begriffe schien mir weniger nothwendig u. auch schwerer zu sein. Daher | |||||||
| hab ich nur das Resultat kurz angegeben u. habe in einigen Vorlesungen | |||||||
| die vollständige Summe der reinen Begriffe, u. der daraus | |||||||
| entspringenden Grundsätze angeführt, u. ihren Gebrauch bestimmt. Ich | |||||||
| habe mich in dieser kurzen Darstellung Ihres Systems vorzüglich bemüht | |||||||
| deutlich zu sein u. habe daher die Form der Vorlesungen gewählt | |||||||
| in denen oft die Zuhörer redend eingeführt werden, gerade wie in | |||||||
| Mendelsohns Morgenstunden u. ich glaube kein geringes Verdienst zu | |||||||
| haben, wenn es mir glückt, Ihre Ideen mehr in Gang zu bringen. | |||||||
| Hierauf gehe ich zu dem Mendels. Werke selbst fort, prüfe zuerst seine | |||||||
| Axiome u. zeige die Schranken ihrer Ausdehnung, u. prüfe darnach so wohl | |||||||
| den kosmologischen u. ontologischen Beweis ganz kurz als auch die neue | |||||||
| Wendung, die ihm M. zugeben gesucht hat, u. schließe mit dem Vernunftglauben | |||||||
| als wohin uns alle Philosophie zuletzt doch nur führt. | |||||||
| Die Uberschriften meiner Vorlesungen s[in]d folgende: 1) Einleitung | |||||||
| 2) Sinnlichkeit u. Verstand 3) Prüfung der Meinungen anderer Philosophen | |||||||
| über Sinnlichkeit 4) Verstand 5) Fortsetzung 6) Fortsetzung des | |||||||
| Vorigen 7) Summarische Wiederholung des Vorigen 8) Nähere Prüfung | |||||||
| der Mendels. Axiome. 9) Uber Idealismus, Epikureismus u. | |||||||
| Spinozismus (nicht als Dogmatiker und fallen alle bei Ihrem System | |||||||
| über den Haufen) 10) Prüfung der Beweise a poster. für das Dasein | |||||||
| Gottes 11) Prüfung des neuen Mendels. Beweises 12) Prüfung des | |||||||
| ontologischen Beweises 13) Fortsetzung 14) letztes Resultat der Untersuchungen | |||||||
| über das Dasein Gottes. | |||||||
| Damit Sie ohngefehr sehen, wie ich die Sache selbst traktirt habe; | |||||||
| so schreib ich Ihnen die Stelle ab, welche S. 116 betrift. M (ein Zuhörer) | |||||||
| Aber wenn alle mögliche Beziehungen in Raum und Zeit nothwendig | |||||||
| gedacht u. alle wirkliche Erscheinungen wirklich erkannt werden müssen, | |||||||
| so können wir doch mit Gewißheit schliessen, daß wir nicht die letzten | |||||||
| Wesen sind, welche in Zeit u. Raum erkennen. Wir sehen, daß eine | |||||||
| noch weit größere u. ausgebreitetere Kentnis der Beziehungen möglich | |||||||
| sei; wir können also gewiß wissen, daß auch alle diese möglichen u. | |||||||
| wirklichen Beziehungen werden erkannt werden u. so dünkt mich können | |||||||
| wir mit unsern Ideen bis zu einem Wesen hinaufsteigen, welches alle | |||||||
| Beziehungen in Raum u. Zeit, alle Beziehungen der Objekte selbst | |||||||
| erkennt. Was hindert uns dieses Wesen für Gott anzunehmen, u. was | |||||||
| berechtigt uns eine höhere Idee zu suchen, als die, welche uns möglich | |||||||
| ist? - Nehmen wir die Beziehungen der Dinge weg, was können sie | |||||||
| alsdenn noch sein? Wenn jemand alle Beziehungen kennt, was will | |||||||
| er sonst noch wissen? Ist nicht zu fürchten, daß wir uns von einem | |||||||
| Schattenbilde, von einer blos übertriebnen Spekulation in unsrer Gewißheit | |||||||
| irre machen lassen? | |||||||
| "Unsre Gewisheit lieber M. steht nicht in unsrer Gewalt. Wo | |||||||
| uns nur noch ein Schattenbild irre machen kann, da haben wir noch | |||||||
| keine vollkomne Gewisheit. Haben Sie je gehört, daß ein Mathematiker | |||||||
| an seinen Lehrsätzen gezweifelt hat? haben Sie je gezweifelt, | |||||||
| daß Sie eine Hand einen Fuß besitzen? - Wenn wir uns überreden | |||||||
| wollen lieber M so haben wir Mittel gnug einen festen Glauben an | |||||||
| diejenigen Behauptungen zu bewirken, welche uns am meisten gefallen. | |||||||
| Aber wissen Sie nicht, daß wir alle Künste der Beredtsamkeit aus | |||||||
| diesen Vorlesungen verbannt haben? Wissen Sie nicht mehr, wie heilig | |||||||
| wir es uns vornahmen, uns von keinem Interesse, sollte es auch das | |||||||
| erlaubteste u. ehrwürdigste sein, leiten zu lassen? - Erinnern Sie | |||||||
| sich nicht, daß alle jene Philosophen, die mit so dringender Wärme uns | |||||||
| ihre Sätze anpriesen, sich durch die Güte ihres Herzens fortreissen | |||||||
| liessen u. ihren ersten Grundsätzen untreu wurden? - Ich fürchte, ich | |||||||
| fürchte, es geht auch Ihnen so, Sie scheuen sich vor einem Resultat, | |||||||
| das Sie nicht wünschen, u. die Wärme Ihres Herzens gebietet dem | |||||||
| Verstande Stillschweigen. Aber versuchen Sie es noch einmal sich in | |||||||
| das kalte Gleichgewicht der Vernunft zu setzen. Vielleicht fürchteten | |||||||
| Sie zu früh. Erinnern Sie sich, daß wir für die Wahrheit der reinen | |||||||
| Ideen kein andres Kriterium haben, als den Satz des Widerspruchs. | |||||||
| Nun war unser Schluß so: Wenn zwei sich wiedersprechende Ideen | |||||||
| mit gleicher Wahrheit gedacht werden können; so ist in dem Verstande | |||||||
| kein Mittel ihre objektive Wahrheit zu entscheiden. Nun haben Sie mir | |||||||
| eine Menge Möglichkeiten entgegengesetzt, die alle wahre Begriffe enthalten | |||||||
| d. h. dem Satze des Widerspr. gemäs s[in]d. - Wie nun wenn | |||||||
| ich Ihnen andre Möglichkeiten entgegensetze, die auch wahre Begriffe | |||||||
| enthalten? - Sie fragen mich, was für Objekte übrig bleiben, wenn | |||||||
| man alle Beziehungen wegnimmt? - Ich antworte: ich weis es nicht. | |||||||
| Aber wollen Sie sie deshalb leugnen? Sie meinen eine zu weit getriebene | |||||||
| Spekulation mache uns in unsrer Gewisheit irre? Ich ab[er] | |||||||
| suche da gar keine Gewish. wo keine zu finden ist. Ich tadle da | |||||||
| man da wissen will, wo man nur glauben soll: Ich meine, da | |||||||
| hierin uns keine Gewish. gegeben u. also alles Suchen darnach Thorheit | |||||||
| sei. Ich kann zu Ihren Einwürfen die Mendelsohnschen noch | |||||||
| hinzufügen (116) Wenn M. dem Idealisten, der wissen will, was das | |||||||
| Urbild sei antwortet: Ihr verlangt etwas zu wissen, was schlechterdings | |||||||
| kein Gegenstand des Wissens ist. Wir stehen an der Grenze, nicht | |||||||
| nur der menschlichen Erkentnis sondern aller Erkentnis überhaupt; so hätte | |||||||
| er Recht, wenn er seine Antwort blos auf menschliche Erkentnis einschränkt; | |||||||
| aber was berechtiget ihn nach seiner Erkentnis aller Erk. | |||||||
| zu bestimmen? - Wir müssen ihm zugeben, daß die Frage, w[a]s die | |||||||
| Dinge an sich selbst seien, für uns unbeantwortl. ist; aber folgt draus, | |||||||
| daß sie überall unbeantwortl. ist? Gibt es keine Objekte, weil wir sie | |||||||
| nicht finden können? Können wir leugnen, daß Etwas über der | |||||||
| Grenze liegt, weil wir nicht hinüber kommen können um etwas zu | |||||||
| suchen? Wer also nach Begriffen forscht, wo keine Begriffe sind, der | |||||||
| handelt thöricht - aber w[a]s berechtigt ihn alles unter Begriffe zwingen | |||||||
| zu wollen? Kann er mit Recht behaupten, d[a]ß alles durch Begriffe | |||||||
| erkannt werden müsse, weil er nichts ohne sie erkennen kann? Wie | |||||||
| kann man aber auch leugnen, d[a]ß ein Ding an sich e. Begriff sei? | |||||||
| Zwar ist er ohne Objekt u. kann sich auf keine Erfahrung beziehen, | |||||||
| wie die Kategorien. Aber er ist auch blos da, um eine Grenze zu | |||||||
| bezeichnen und nicht anzudeuten was über der Grenze liegt. Kan | |||||||
| man ab[er] da das Dasein der Gegenst. läugnen, wo man nicht gewesen | |||||||
| ist u. doch unmöglich hinkommen kann etc. etc. | |||||||
| Die Stelle wird, wie Sie sehen blos beiläufig berührt. Es würde | |||||||
| mir also sehr lieb sein, wenn Sie sich auf eine genauere Auseinandersetzung | |||||||
| dieser oder mehrerer einliessen, oder wenigstens ein allgemeines | |||||||
| Urteil über die Mendels. Bemühungen das Gebiet der R. V. zu erweitern | |||||||
| beifügten, um es als eine kleine Abhandlung an meine Schrifft | |||||||
| mit drucken zu lassen. Ich bitte aber diese Zudringlichkeit ja nicht | |||||||
| übel aufzunehmen. Ich würde eine solche Bitte niemals gewagt haben, | |||||||
| wenn Sie mich nicht selbst durch Ihr gütiges Anerbieten so dreust | |||||||
| gemacht hätten. | |||||||
| Uber Ihre Metaphysik der Sitten scheint das Misverständnis doch | |||||||
| noch weit grösser zu sein als über Ihre Kritik. Ich weis nicht ob | |||||||
| Ihnen die Brochüre von einem gewissen Tittel zu Gesichte gekommen | |||||||
| ist, der Ihre Metaph. zu beurteilen wagt, ohne nur zu verstehen, wohin | |||||||
| eigentlich Ihre Untersuchung zielt. Doch ich habe Ew. Wohlgeb. schon | |||||||
| zu viel Zeit mit meinem Briefe weggenommen u. es ist Zeit daß ich | |||||||
| abbreche. Da meine Schrift noch mit der Michäelis Messe erscheinen | |||||||
| soll; so wünschte ich so glücklich zu sein von Ihnen bald eine Antwort | |||||||
| zu erhalten. Ich bin mit der tiefsten Ehrfurcht | |||||||
| Ew. Wolgebohren | |||||||
| wärmster Verehrer | |||||||
| L. H. Iakob. | |||||||
| [ abgedruckt in : AA X, Seite 458 ] [ Brief 275 ] [ Brief 276a und b ] [ Gesamtverzeichnis des Briefwechsels ] | |||||||