| Kant: Briefwechsel, Brief 228, Von Friedrich Victor Leberecht Plessing. | |||||||
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| Von Friedrich Victor Leberecht Plessing. | |||||||
| 3. April 1784. | |||||||
| Wohlgeborner Herr, | |||||||
| Hochzuverehrender Herr, | |||||||
| Mit dem empfundensten Dank erkenne ich die Sorge und Aufmerksamkeit, | |||||||
| die Ew. Wohlgeb. bisher immer meinen Angelegenheiten | |||||||
| gewidmet haben, und ich werde nie aufhören, mich Denenselben dafür | |||||||
| verpflichtet zu erkennen: Dero Andenken ist mir unvergeßlich geworden. | |||||||
| Ich antworte sogleich, da ich Dero Schreiben erhalten. Sie sind | |||||||
| ein gerechter Mann, und haben ein inniges Gefühl von den Pflichten | |||||||
| der Menschlichkeit, und daher rührt Ihr Unwillen gegen einen gewißen | |||||||
| ungenannten Mann, weil Sie glauben, daß er gegen eine gewiße Person | |||||||
| nicht pflichtmäßig genug gehandelt. Eine jede lebhafte Empfindung | |||||||
| verdrängt auf gewiße Augenblikke, alle übrige: Laßen Sie uns das | |||||||
| Betragen des Ungenannten izt näher betrachten, vieleicht daß dann | |||||||
| die auf eine Zeitlang verstummten Empfindungen gegen den Ungenannten, | |||||||
| in Ew. Wohlgeb. wieder zurükkehren: Auch dieser verdient | |||||||
| Gerechtigkeit, und ein Mann von Ihrem Herzen, wird sie ihm nicht | |||||||
| versagen. | |||||||
| Zuerst muß ich Ew. Wohlgeb. auf Ehre und Gewißen versichern, | |||||||
| daß sich der Ungenannte nicht der geringsten Künste bedient, um die | |||||||
| bewußte Person zu verführen: er hat weder Überredungen noch Liebkosungen | |||||||
| angewendet: die bewußte Person hat der augenbliklichen | |||||||
| Empfindung des blos thierischen Triebes untergelegen: der Ungenannte | |||||||
| fand keinen Wiederstand. So wenig ich also den Ungenannten überhaupt | |||||||
| entschuldige, daß er in diese Schwachheit versunken, so ist er | |||||||
| doch von der Schuld frei, daß er die Tugend verführt: diesen Vorwurf | |||||||
| darf sich der Ungenannte weder hier bei dieser Person, noch je | |||||||
| sonst noch in seinem Leben machen. Und ich kann in die Seele des Ungenannten | |||||||
| schwören, daß, wenn er nur den geringsten Anschein von | |||||||
| Widerstand, der ein edles Gefühl der Tugend verrathen, gefunden, so | |||||||
| würde er dises heilige Gefühl geehret haben. - Noch eine Versicherung | |||||||
| kann ich Ihnen im Nahmen des Ungenannten thun, daß er einer | |||||||
| von denen jungen Leuten izt lebender Zeit ist, die sich am allerwenigsten | |||||||
| Vorwürfe darüber machen dürfen, in der Liebe zum andern Geschlecht, | |||||||
| durch Befriedigung des thierischen Instinkts ausgeschweift zu haben: | |||||||
| den Vorwurf muß er sich hingegen machen, daß er in der feinern | |||||||
| metaphysischen Liebe ehmals auf die traurigste Weise ausgeschweifet, | |||||||
| und darüber fast ganz Gesundheit des Leibes und der Seele verlohren | |||||||
| hat. - Nur einige wenige Mahle, hat er bei jener Person den thierischen | |||||||
| Empfindungen untergelegen, hernach hat er in der strengsten Entfernung | |||||||
| von derselben gelebt, und Ekel, und innern Unwillen gegen sich selbst, | |||||||
| empfunden. | |||||||
| Der Ungenannte soll ein unmoralisches Betragen dadurch geäußert | |||||||
| haben, daß er in den Augenblikken der thierischen Empfindung, die | |||||||
| künftigen daraus entstehenden traurigern Folgen hat vorzubeugen suchen. | |||||||
| Ich halte dergleichen außergesezliche Befriedigungen der Liebe im Ganzen | |||||||
| allemahl für unerlaubt; allein wenn nun ein Mensch einmahl in diese | |||||||
| Natur=Schwachheit verfällt, handelt er darin so unmoralisch, wenn ihn in | |||||||
| disen Augenblikken, die Furcht (:wenn er sie sich von je her so genau | |||||||
| aßociirt hat:) für künftigen traurigen Folgen bewegt, sich nicht ganz | |||||||
| seinem Instinkt zu überlaßen? Die Gränzen dieses Briefes erlauben | |||||||
| nicht, mehrere Anmerkungen über diese zärtliche Sache zu machen, die | |||||||
| von so manchen Seiten kann betrachtet werden; Nur dies einzige will | |||||||
| ich dabei noch erwähnen: Sollten Eheleute unmoralisch handeln, wenn | |||||||
| sie bei schon geschehener Empfängniß, demohnerachtet fortfahren, diesen | |||||||
| physischen Trieb der Liebe zu befriedigen, da von nun an durch denselben, | |||||||
| der Zwek der Zeugung nicht mehr kann erreicht werden? Ich | |||||||
| glaube dies Beispiel paßt auf den Ungenannten: denn wenn es moralisches | |||||||
| Gesez ist, bei der Befriedigung dieses NaturTriebes, blos unmittelbar | |||||||
| den Zwek der Zeugung zu erzielen, so handeln Eheleute unmoralisch, | |||||||
| wenn sie noch fortfahren die Werke der Liebe zu treiben, da | |||||||
| der Zwek der Zeugung nicht mehr erreicht werden kann. - Wenn aber | |||||||
| der Ungenannte hierin würklich geirrt, so glaube ich nicht, daß man die | |||||||
| Quelle dieses Irthums in seinem Herzen - in seiner moralischen Verdorbenheit | |||||||
| suchen müße. Er muß damahls (:überhaupt war zu dermahliger | |||||||
| Zeit seine Seelen=Lage ganz außerordentlich; und es dürften | |||||||
| wenige ähnliche Beispiele unter andern Menschen aufgefunden werden | |||||||
| können, um mit ihnen seinen Gemüths=Zustand zu vergleichen:) gewiß | |||||||
| nicht geglaubt haben, daß er hierin einen moralisch wichtigen Irthum | |||||||
| hege; dies läßt sich aus seinem ganzen Betragen, das er beobachtete, | |||||||
| darthun: So sehr auch Iemand ein Bösewicht seyn mag, so wird er | |||||||
| doch, wenn er äußerlich noch nicht ganz als Schurke demaskirt ist, | |||||||
| noch immer einen gewißen Schein vom rechtschaffenen Manne zu affektiren | |||||||
| suchen, und sich daher nie in seinen innersten Gesinnungen blos | |||||||
| geben, nehmlich, ganz offenbar seine bösartigen Gesinnungen von sich | |||||||
| bekennen. Der Ungenannte hingegen entdekte sich in dieser Gesinnung, | |||||||
| einem angesehenen Manne: Nun ist nur einer von beiden Fällen möglich: | |||||||
| entweder, der Ungenannte muß der einfältigste Mensch von der | |||||||
| Welt seyn, der nicht begreift, daß er sich der bittersten Verachtung | |||||||
| aussezt, wenn er schlechte Grundsäzze entdekt; oder, er muß der unverschämteste | |||||||
| Bösewicht seyn, der es in der Fühllosigkeit und Frechheit | |||||||
| schon soweit gebracht, daß Schande und Ehre ihm gleich viel sind: | |||||||
| Ich glaube nicht, daß der Ungenannte auf irgendeine Weise zu dem | |||||||
| Verdacht Anlaß gegeben: ihn entweder für einen ganz einfältigen | |||||||
| Menschen, oder für einen ausgemachten Schurken zu halten. - Auch | |||||||
| die Absicht, kann der Ungenannte, bei dieser gegen HErrn H. (:dem | |||||||
| bewußten angesehenen Mann:) von sich gethanen Erklärung, nicht gehabt | |||||||
| haben: sich etwa dadurch von den Ansprüchen los zu machen, die | |||||||
| die Person, wenn sie in ihrer Aussage fortführe, gegen ihn machen | |||||||
| könnte: denn ihm mußte bekannt seyn, daß die Gesezze auf dergleichen | |||||||
| nicht Rüksicht nehmen; Nur eine Ausflucht blieb ihm übrig: er mußte | |||||||
| alles ableugnen und abschwören; dies ist dem Ungenannten, aber nie | |||||||
| in den Sinn gekommen, auch hat er nie gegen Iemand anders so | |||||||
| etwas geäußert. Wenn ich mich also genau in die damahlige Lage | |||||||
| des Ungenannten hineindenke, so hat er, durch dieses Bekenntniß in | |||||||
| dem Individuo H. blos suchen die Überzeugung zu bewürken, daß die | |||||||
| Person, eine fälschliche Aussage von ihm thue. Hätte aber der Ungenannte | |||||||
| irgend vermuthet, durch dieses Bekenntniß ein Geständni | |||||||
| eines unmoralischen Grundsazzes zu thun, so läßt sich dies mit seinem | |||||||
| übrigen Betragen nicht zusammenreimen, da er so besorgt war, da | |||||||
| diese Sache möchte verschwiegen bleiben und ihm keine üble Nachrede | |||||||
| verursachen, und daher sich auch gleich vorher dazu verstand die Person | |||||||
| mit Gelde zu befriedigen. Wenn aber jemand so sehr um Verschwiegenheit | |||||||
| bei einer gewißen Sache zu thun ist, und er sich in derselben | |||||||
| einem Andern vertraut, sich aber gegen denselben dabei offenbar als | |||||||
| einen schlechten Menschen charakterisiret, darf er da wohl hoffen, da | |||||||
| der Andre ihm die Achtung beweisen, und seines Nahmens schonen wird? | |||||||
| (:ob HE H. dies bei dem Ungenannten in der Folge gethan, oder | |||||||
| nicht, weiß ich nun nicht:) Überhaupt war der Inhalt von dem Briefe | |||||||
| des Ungenannten an HE H. nicht so, daß er ein ausgeartetes Herz | |||||||
| verrathen können: Es muß Iemand kein Herz mitbringen, wenn | |||||||
| er nach Lesung deßelben, fähig seyn kann, dem Verfaßer deßelben, ein | |||||||
| ausgeartetes Herz zuzuschreiben. Doch genug hierüber. | |||||||
| Der Ungenannte soll ferner darin unmoralisch gehandelt haben, | |||||||
| daß er die bewußte Person Lügen gestraft, da doch nunmehr, durch | |||||||
| die Ähnlichkeit des Kindes mit dem Ungenannten, der so viel Auszeichnendes | |||||||
| an sich habe, die Warheit ihrer Aussage bestättigt | |||||||
| werde. Hat der Ungenannte der Person hierin zu viel gethan, so bittet | |||||||
| er sie deswegen in seinem Herzen recht feierlich um Verzeihung; allein, | |||||||
| wenn er es gethan, so kann ich aufs Gewißeste versichern, daß der Ungenannte | |||||||
| die höchsten Gründe der Warscheinlichkeit vor sich gehabt, durch | |||||||
| dieselben seinen Verdacht zu rechtfertigen: Der Ungenannte hatte erstlich | |||||||
| eine Erfahrung für sich die in Königsberg allgemein bekannt ist, | |||||||
| daß in K. sehr vieles lüderliches WeibsVolk ist, die fremde Nahmen | |||||||
| mißbrauchen: Ich kenne einen angesehenen Kaufmann in K-gb-g, | |||||||
| den binnen Zeit von einem Iahre sieben Frauenspersonen angegangen | |||||||
| sind, er habe sie in die Umstände der Schwangerschaft versezt; er hat | |||||||
| mir auf Ehre und Gewißen betheuret, daß er sie nicht einmahl alle | |||||||
| von Gesicht gekannt, besonders die siebente, die er nie in seinem Leben | |||||||
| gesehen. 6 von diesen lüderlichen Personen, um sich kein Spektakel | |||||||
| zu machen, hat er Geld gegeben: bei der siebenten endlich wird er ungeduldig | |||||||
| und schmeißt sie zur Thüre hinaus; diese verklagt ihn (:denn | |||||||
| es soll dergleichen Huren=Advokaten viele in K. geben. HE H. hat | |||||||
| auf eine lobenswürdige Weise selbst dazu beigetragen, daß einigen von | |||||||
| diesen schlechten Menschen, ihrer Advokatur sind entsezt worden:) sie bezeichnet | |||||||
| Ort, Stunde, alles genau: der Mann verliehrt den Proces; | |||||||
| er appellirt nach Berlin, da hat er ihn endlich gewonnen, aber auf | |||||||
| einige hundert Thaler Unkosten gehabt. Der Ungenannte hatte also | |||||||
| wenigstens viele Erfahrungen vor sich, daß dergleichen Weibspersonen | |||||||
| mehrentheils mit Lügen umgehen; doch konnte ihn freilig dies allein | |||||||
| nicht berechtigen, die Außage der Person platterdings für falsch zu erklären; | |||||||
| Allein eine andere Ursache, die er HE H. in jener schon gedachten | |||||||
| Erklärung zu verstehen gegeben, bewog ihn, das Vorgeben der | |||||||
| Person für fälschlich zu halten, so, daß er, wenn nun doch das Vorgeben | |||||||
| der Person würklich Grund haben sollte, gestehen muß: er sei | |||||||
| alsdenn überzeugt: daß das männliche Geschlecht, nicht die Ursache | |||||||
| sondern nur die entfernte Veranlaßung der Zeugung sei. | |||||||
| Und sollte wohl die behauptete Ähnlichkeit des Kindes, einen | |||||||
| völligen Beweis gegen den Ungenannten abgeben können? Ich glaube | |||||||
| nicht, daß dies weder nach rechts= noch nach physischen Gründen geschehen | |||||||
| könne: Auf diese Weise müßte z. e. manche Mutter beschuldigt | |||||||
| werden können, sie habe sich mit Thieren fleischlich vermischt; denn ich | |||||||
| habe unter andern in Leipzig einmahl ein 9 Iähriges Kind gesehen, | |||||||
| daß auf dem ganzen Leibe fast mit Hirsch Haaren bewachsen und sonst | |||||||
| auch, besonders an den Füßen, eine Hirsch=ähnliche Bildung hatte; das | |||||||
| leztere wird auch durch das Beispiel des leztverstorbenen Kurfürsten | |||||||
| von Sachsen erläutert. Überdem so kommen hundert Fälle vor, wo | |||||||
| man Ähnlichkeiten zwischen fremden Menschen in großer Maaße entdekt, | |||||||
| ohne daß der Verdacht statt haben kann, daß der eine dem andern | |||||||
| sein Daseyn zu verdanken. Und nun wäre auch noch zu untersuchen, ob | |||||||
| diese Ähnlichkeit des Kindes mit dem Ungenannten würklich da ist: die | |||||||
| Einbildungskraft kann hier vieles entdekken u. s. w. | |||||||
| Wenn nun der Ungenannte sich nicht bis zur Gewißheit überzeugen | |||||||
| kann (:So bald er einmahl Gelegenheit hat, einen erfahrnen Natur= und | |||||||
| Arznei-kundigen zu sprechen, so wird er ihm unter andern Nahmen disen | |||||||
| ganz seltsamen Fall - der zu ganz neuen Theorien Anlaß geben könnte | |||||||
| erzählen, und seine Meinung darüber einhohlen:), aus moralischen und | |||||||
| physischen Gründen, sich nicht gewiß überzeugen kann, so will er sich | |||||||
| dadurch nicht von den äußern Pflichten lossprechen, die ihm der äußere | |||||||
| Anschein der Sache, der wider ihn ist, auflegen: sondern er achtet sich | |||||||
| zu ihrer Erfüllung verbunden. Und da jeder rechtschaffene Mann auch | |||||||
| dem äußeren Anschein der Dinge sich gemäß bezeigen, und seine Pflichten | |||||||
| nach denselben bestimmen muß (:indem er genöthigt ist, sehr oft von | |||||||
| seiner innern Überzeugung abzugehen, wenn er dadurch, daß er ihr | |||||||
| Folge leistete, Übel stiften könnte:), so wird der Ungenannte, da dieser | |||||||
| äußere Anschein noch mehr redend gegen ihn geworden ist, auch hierauf | |||||||
| Rüksicht nehmen, und das ausgesezte IahrGeld verdoppeln, so daß die | |||||||
| Person von nun an Monathlich 1 rthl. zur Verpflegung des Kindes | |||||||
| erhalten soll. Mehr kann der Ungenannte in seiner gegenwärtigen | |||||||
| dringenden Lage nicht verwilligen, wenn er nicht noch weit höhere | |||||||
| Pflichten verlezzen will; Unterdeßen wird der Ungenannte, wenn er in | |||||||
| günstigere Umstände kommt, alsdann noch ein Mehreres thun, was ihm | |||||||
| gegenwärtig die Ohnmöglichkeit nicht zu thun verstattet. Alle diese | |||||||
| äußern Pflichten wird der Ungenannte erfüllen; allein man wird doch | |||||||
| nicht so grausam seyn, und seinen Glauben, seine innere Überzeugung | |||||||
| (:die nun einmahl durch gewiße Gründe in ihm entstanden ist, die er | |||||||
| sich nicht mit Gewalt aus seinem Kopf wegdenken kann:) zwingen | |||||||
| wollen. - | |||||||
| Im übrigen fühlet der Ungenannte mit der bittersten Empfindung | |||||||
| diesen ganzen Vorfall, indem es ihm unendlich wehe thut, daß er durch | |||||||
| seine Schwachheit, gewißermaßen ein Ärgerniß gegeben, und dieser | |||||||
| Person so viele Veranlaßung dadurch gegeben, zu einer gewißen That | |||||||
| ihn als den alleinigen Urheber, mit so viel äußerer Warscheinlichkeit | |||||||
| anzugeben; alle die daraus entstehenden Folgen, wirft sich der Ungenannte | |||||||
| aufs bitterste vor: sie machen das Maaß seines Leidens voll: | |||||||
| sein ganzes Leben fast war eine Kette von Übeln; der Pfad seines | |||||||
| Lebens ging stets über Dornen. Wüsten Ew. Wohlgeb. die wahre, | |||||||
| die ganze Geschichte von dem Leben des Ungenannten, so würden Sie | |||||||
| ihm einen Antheil von Ihrer Achtung und Ihrem Mitleiden nicht | |||||||
| versagen können. Dieser Ungenannte hat nicht immer blos durch sich | |||||||
| selbst gelitten, sondern er hat auch fremde Leiden theilen müßen; und | |||||||
| das hieraus entspringende Gefühl, ist für ihn oft noch bittrer geworden, | |||||||
| als sein eignes Leiden selbst. Schon von seinem Vater, väterlicher | |||||||
| Seite, und ältervater, mütterlicher Seite, haben diejenigen, denen er | |||||||
| sein Daseyn zu danken, die schmerzhaftesten Unfälle erlitten; und die | |||||||
| Geschichte von der Familie des Ungenannten zeigt, daß bisweilen das | |||||||
| Unglük eine Familie ganze Geschlechts=Folgen hindurch, gleichsam recht | |||||||
| übernatürlich verfolge: Die Geschichte des Ungenannten und seiner | |||||||
| Familie zeigt: daß die Bosheit immer triumphire und die Redlichkeit | |||||||
| unterliegen müße: diese Warheit ist mit blutigen Zügen in mein Herz | |||||||
| geäzt. - Doch diese Geschichte gehöret hier nicht her. | |||||||
| Im übrigen, will der Ungenannte die Person, da sie bei Ihrer | |||||||
| Außage beharret, gar nicht in seinem Herzen verdammen und beschuldigen; | |||||||
| er gibt die Möglichkeit zu, daß sie die Warheit rede: Nur kann | |||||||
| er sich sein einmahlige Überzeugung nicht mit Gewalt nehmen; doch | |||||||
| soll dise Überzeugung, keine Schuld auf die Person häufen, der der | |||||||
| Ungenannte alles vergiebet, so wie sie ihm mag vergeben, wenn Er | |||||||
| ihr durch seine innere Uberzeugung, in seinem Herzen Unrecht thun | |||||||
| sollte. | |||||||
| Die gegenwärtigen schlechten Umstände der Person, können dem | |||||||
| Ungenannten schlechterdings nicht beigemeßen werden, man würde dadurch | |||||||
| die größte Grausamkeit gegen ihn begehen: sie hat von | |||||||
| dem Ungenannten 60 rthl baar erhalten; hat sie diese schon durchgebracht, | |||||||
| so liegt die Schuld an ihrer schlechten Wirthschaft, nicht aber | |||||||
| an dem Ungenannten: wenn also die bewußte Person zu einer unsinnigen | |||||||
| Verzweiflung sollte hingerißen werden, so würde es unmenschlich | |||||||
| von denen seyn, die die Schuld hieran dem Ungenannten beimeßen | |||||||
| wollten. - Daß er die Auszahlung des Geldes keinem andern anvertraut, | |||||||
| ist Ursach, weil er keinen andern als HE Iohn finden konnte, | |||||||
| der sich damit abgeben wollte; dieser Unterschrieb den Contrakt, sagte | |||||||
| für die jedesmahlige Zahlung gut: der Ungenannte glaubte nicht, da | |||||||
| ein Mann von nicht einmahl mittelmäßiger Denkungsart, im Stande | |||||||
| wäre, auf solche Weise das ihm anvertraute Geld (:vorzüglich unter | |||||||
| diesen Umständen:) zu veruntreuen: es sezt dies eine so niedrige | |||||||
| Denkungsart zum voraus, daß man, wenn man nicht sein eignes | |||||||
| Herz in Verdacht bringen will, sie schwerlich einem Manne wie HE | |||||||
| I. (:so wenig unbescholten auch sein Charakter dem Ungenannten bekannt | |||||||
| war:), zutrauen konnte. - Der Ungenannte wird HE Iohn | |||||||
| nicht zur Bezahlung antreiben; denn wenn er sich so vor seinen Augen | |||||||
| demaskirt sähe, so müßte ihn dies zu einer niedrigen ausgelaßenen | |||||||
| Rache reizen, wozu sich in solchen Fällen allemahl Menschen hinreißen | |||||||
| laßen, die an ihrer Ehre nichts mehr zu verliehren haben: Und der | |||||||
| Ungenannte mag HE I. nicht Gelegenheit geben, sich als einen noch | |||||||
| schlechtern Menschen zu zeigen. Ich habe HEn Brahl gebethen, ob er | |||||||
| mit guter Manier das Geld von ihm wieder kriegen kann, etwa durch | |||||||
| Wollentait, denn ihm selbst will ich just diese unangenehme Commission | |||||||
| nicht zumuthen; Wollenteit, wenn er im Nahmen der Person, nach | |||||||
| von ihr gebrachter Quittung, von ihm das Geld abforderte. - Also | |||||||
| darf man dem Ungenannten (:der das Geld immer richtig übermacht | |||||||
| hat:) auch hierin nicht gradzu die Schuld von den schlechten Umständen | |||||||
| der Person beimeßen. Denn dazu kann sich der Ungenannte | |||||||
| nicht verpflichten, die Person selbst zu erhalten: diese muß arbeiten: | |||||||
| seine Pflicht kann sich blos auf das Kind erstrekken, worüber er sich | |||||||
| auch schon vorhin erklärt hat. - Da von dem Ungenannten betheuret | |||||||
| werden kann, daß er im strengsten Verstande, kein Verführer der | |||||||
| Tugend bei dieser Person gewesen (:die auch nicht eine Nüance von | |||||||
| irgend einem solchen Gefühl geäußert, sondern sich blindlings hingegeben | |||||||
| hat:) ist: Er hat daher glaube alles gethan, was nur je ein Mensch | |||||||
| in seiner Lage thun konnte, wenn er ihr 60 rthlr gegeben, da die | |||||||
| Gesezze in solchem Falle, wenn für den Unterhalt des Kindes gesorgt | |||||||
| wird, selten über 1O rthlr bestimmen. Dem Ungenannten also auch | |||||||
| von dieser Seite Vorwürfe und Beschuldigungen machen wollen, dies | |||||||
| hieße: ihn (:deßen Herz so schon so unendlich leidet, das so vieles tragen | |||||||
| muß:) aufs bitterste kränken, ihn grausam behandeln: Der Ungenannte | |||||||
| kann also nicht befürchten, daß man von allen diesen nunmehr berührten | |||||||
| Seiten Schuld über ihn haufen wird; sollte es doch geschehen, | |||||||
| so wird es ihn zwar unendlich schmerzen, doch hat er aber so viele | |||||||
| veste Grundsäzze, daß er immer wird die Ueberzeugung in sich rege | |||||||
| erhalten können, daß er in seiner Lage, nach Ehre und Gewißen gehandelt | |||||||
| hat. | |||||||
| Es erfolgen anbei an Ew. Wohlgeb. noch 9 rthlr die ich gehorsamst | |||||||
| bitte HE Brahl auszuzahlen, der sie nebst den schon dort angekomm[n]en | |||||||
| 3 rthlr, der bewußten Person izt gleich baar auszahlen, und | |||||||
| denn anfangen soll, ihr jeden Monath 1 rthlr für das Kind zu geben. | |||||||
| Vergeben mir Ew. Wohlgeb. daß ich Dieselben noch zum lezten Mahle, | |||||||
| durch Überschikkung des Geldes belästige; es wird von nun an, diese | |||||||
| vors erste, ganz durch HE Brahl geschehen, bis ich drauf denken kann, | |||||||
| wo ich etwa einen ganz anßäßigen Mann in K. finde, der die Auszahlung | |||||||
| für den Ungenannten über sich nimt: Gegenwärtig hat mein | |||||||
| so sehr mitgenommener Kopf nicht die Kraft, hierauf zu sinnen; welches | |||||||
| aber in der Folge geschehen soll, um die Sache ganz in Ordnung zu | |||||||
| bringen. Mir thut es unendlich wehe, daß ich Ew. Wohlgeb. bisher | |||||||
| hiedurch habe belästigen müßen; ich bitte Dieselben dafür aufs innigste | |||||||
| um Vergebung, welches ich mich um desto mehr zu thun verbunden | |||||||
| fühle, da Ew. Wohlgeb. der Mann sind, der schon so viele Mühwaltungen | |||||||
| um meinetwillen unternommen, durch die er sich nicht nur mir, | |||||||
| sondern allen Menschen (:wenn seine That ihnen bekannt seyn sollte:), | |||||||
| die irgend Gefühl für Tugend haben, verherrlichen mußte. Halten | |||||||
| Sie mich nicht für fähig, daß ich, unter irgend einem Verhältniß des | |||||||
| Lebens, Dero gegen mich sich so sehr ausgezeichnete Denkungsart vergeßen | |||||||
| könnte: Undankbarkeit ist ein schändliches Laster. Das würde | |||||||
| der seeligste Augenblik meines Lebens seyn, in dem ich Ihnen zeigen | |||||||
| könnte - ganz zeigen könnte: welch ein hohes Gefühl ich von Ihrer | |||||||
| Tugend habe. | |||||||
| Da Ew. Wohlgeb. wißen, wie nahe mir der Ungenannte angeht, | |||||||
| so werden Sie es mir selbst als Pflicht auflegen, seine Vertheidigung | |||||||
| zu unternehmen: Denn derjenige verdient aller Verachtung, der gleichgültig | |||||||
| gegen seine Ehre und gegen seinen Ruf als rechtschaffener | |||||||
| Mann ist. Ich habe den Ungenannten nicht sowohl zu vertheidigen, | |||||||
| als vielmehr nur das rechte Licht über seine Handlungen zu verbreiten, | |||||||
| gesucht: erlauben Sie mir, daß ich hierin noch fortfahre. Laßen Sie | |||||||
| mich daher noch einige Anmerkungen über das Betragen des Ungenannten, | |||||||
| gegen die bewußte Person, machen: Ich glaube nicht, da | |||||||
| man ihm den Vorwurf machen können: daß seine Absicht gewesen, die | |||||||
| Person zu hintergehen, oder sich irgend eines unedlen Mittels gegen | |||||||
| sie zu bedienen. Doch um den Ungenannten in seinem Verfahren | |||||||
| ganz darzustellen, muß ich etwas weiter aushohlen: Ew. Wohlgeb. | |||||||
| haben freilig nicht Gelegenheit gehabt, die ganze Geschichte des Ungenannten | |||||||
| zu erfahren, und sein inneres Seelen=System ganz kennen | |||||||
| zu lernen (:welches beides nöthig seyn würde, um den Ungenannten | |||||||
| nach seinem wahren Charakter zu beurtheilen: einzelne abgerißene Züge, | |||||||
| können uns außer ihrem Zusammenhang oft ein moralisches Ungeheuer | |||||||
| darstellen:), Dieselben wißen aber, welch einen seltsamen Entschluß [er] | |||||||
| vor zwei Iahren gefaßt hatte: Über diese That, die er auszuführen im | |||||||
| Begrif war, hatte er ein eignes Buch geschrieben. Dieses Buch liegt | |||||||
| unter den übrigen Urkunden seiner Lebens=Geschichte (:denn der Ungenannte | |||||||
| hat die merkwürdigsten Begebenheiten seines Lebens, wie | |||||||
| auch die bei seiner Seele gemachten besondern Erfahrungen zu Papier | |||||||
| gebracht:), und kann, wenn es in die Hände einiger weisen und edlen | |||||||
| Menschen geräth, einmahl nach seinem Todte, seinen Charakter ins | |||||||
| wahre Licht sezzen. Bei jedem der dieses Buch liset (:wenn er nicht | |||||||
| einen von Vorurtheilen ganz eingenommenen Kopf hat:), muß daßelbe | |||||||
| dem Charakter des Verfaßers Ehre und keine Schande bringen: ich | |||||||
| meine hier gar nicht, als wenn die Lesenden, in gewißen den Hauptgegenstand | |||||||
| des Buchs betreffenden Grundsäzzen, alle mit dem Verfaßer | |||||||
| müßten einstimmig seyn; dies ist hiezu gar nicht von Nöthen. Doch | |||||||
| genug von diesem. - Ich erinnere hier nur gleich zum voraus: In | |||||||
| seinem ganzen Verfahren, ist der Ungenannte einen graden offnen | |||||||
| Weg gegangen; auch wie er sich Ew. Wohlgeb. entdekte, hat er nichts | |||||||
| verborgen, sondern die ganze Sache dargelegt, wie sie war, und zur | |||||||
| Warheits=Bestättigung derselben, alles mit Urkunden belegt, die in Ew. | |||||||
| Wohlgeb. Händen gewesen. Diese Warheitsliebe und Offenheit des | |||||||
| Ungenannten, kann wenigstens etwas zum Voraus im Allgemeinen | |||||||
| ein gutes [Vorurtheil von ihm erwekken]. | |||||||
| Noch erinnere ich hiebei: HE Brahl, der einer der ältesten Bekannten | |||||||
| des Ungenannten in K. gewesen, den er durch HE Haman | |||||||
| kennen lernen, weiß verschiedne Begebenheiten deßelben, ehe er nach | |||||||
| Preußen gegangen; doch ist ihm nicht die ganze Geschichte deßelben | |||||||
| (:auch nicht die Verhältniße deßelben, die Ew. Wohlgeb. nur allein | |||||||
| bewußt sind; von dieser ganzen Lage des Ungenannten, weiß er gar | |||||||
| nichts:) bekannt. Auch ist ihm, so wie HE Hamann, der Trübsinn | |||||||
| und fürchterliche Melancholie, in der sich der Ungenannte immer in K. | |||||||
| befunden, bekannt. Alles dies veranlaßte in den letztern Tagen der | |||||||
| Abreise des Ungenannten, daß er endlich (:wozu noch ein gewißer | |||||||
| Brief an den Ungenannten kam, den HE. Brahl gelesen:) sich gegen | |||||||
| ihn herausließ, er habe über diese seltsame Materie ein eignes Buch | |||||||
| geschrieben; jener mußte ihm versprechen, das Buch zum Durchlesen | |||||||
| zu schikken: denn es lag weit entfernt wo in Verwahrung. Herr Brahl | |||||||
| hat dies Buch gelesen und zurükgeschikt. Haben Ew. Wohlgeb. irgend | |||||||
| Trieb, so können Sie sich bei HE Brahl ohngefehr nach dem Geist | |||||||
| dieses Buchs erkundigen, wenn sich nehmlich eine Gelegenheit finden | |||||||
| sollte, wo Ew. Wohlgeb. es für bequem und gut finden sollten, eine | |||||||
| solche Erklärung gegen HE Brahl zu äußern. Ich gedenke hievon | |||||||
| gegen HE B. mit keinem Wort etwas, sondern es ist ein bloßer | |||||||
| augenbliklicher Einfall, den ich gegen Ew. Wohlgeb. vorbringe. | |||||||
| Ich sehe, ich werde sehr weitläufig, aber einem Manne wie mir, | |||||||
| dem sein Kopf so mitgenommen ist, kann es weniger verarget werden, | |||||||
| wenn er bei einem solchen Zustand, nicht immer im rechten Zusammenhang | |||||||
| denkt und schreibet. - Ich erlaube mir hier noch eine Bemerkung: | |||||||
| lange und harte Prüfungen des Schiksaals, die immer die | |||||||
| Seele erschüttert halten, können auch zuweilen den edelsten und rechtschaffensten | |||||||
| Mann so außer sich selbst sezzen, gewißermaßen konfu | |||||||
| machen, daß er sein System auf einige Zeit vergißt, und wie ein | |||||||
| Mensch handelt, der im Schlaf ist, oder im Rausch ist. Bei nur | |||||||
| Mittelmäßiger Unterstüzzung des Glüks, halte ich es für gar keine | |||||||
| Kunst, immer tugendhaft zu handeln: allein, wenn ein Mensch, sich | |||||||
| ganz immer vom Glük verlaßen sieht, immer Blößen geben muß, ohne | |||||||
| das Glük auf seiner Seite zu haben, sie mehr dekken zu können | |||||||
| ein solcher kann bisweilen durch die ihm wiederfahrnen gewaltsamen | |||||||
| Anstrengungen, in Verwirrungen gerathen, in denen er hernach für | |||||||
| sich selbst erschrekken muß. Einem anthaltenden Unglük, wird also selten | |||||||
| die beste Tugend so widerstehen können, daß sie nicht zu Zeiten, Blößen | |||||||
| geben sollte - - | |||||||
| Doch ich komme auf den Ungenannten zurük: Als jene für ihn | |||||||
| fatale Begebenheit zum Ausbruch kam, so war er der Ausführung jenes | |||||||
| vorhin gedachten Entschlußes nahe. Allein wie betrug sich nun hier | |||||||
| derselbe? Anstatt daß bei einem andern, der, durch wilde Grundsäzze | |||||||
| und Verdorbenheit seines moralischen Charakters, auf diesen Entschluß | |||||||
| gekommen, eine solche widrige Begebenheit, die Ausführung deßelben | |||||||
| würde beschleunigt haben, würkte sie bei dem Ungenannten das Gegentheil: | |||||||
| Nun verwarf er auf einmahl diesen Entschluß, suchte sich gewaltsam | |||||||
| aus seiner Seelen=Lage herauszukämpfen, um von izt einen | |||||||
| neuen Plan des Lebens zu verfolgen. Ich glaube, daß nur ein Mann | |||||||
| von Ehre und Gewißen so handeln kann, wie der Ungenannte diesem | |||||||
| Falle that: ich will hiebei garnicht von ihm behaupten, daß er in | |||||||
| seinen Grundsäzzen, die ihn vorhin zu diesem Entschluß vermochten, | |||||||
| nicht sollte geirrt haben können. Allein bisweilen kann ein Irthum, | |||||||
| aus einer edlern Quelle entspringen, als selbst die Warheit. Partheiligkeit | |||||||
| kann mich hier gegen den Ungenannten hinreißen: Aber nach | |||||||
| meiner gegenwärtigen Überzeugung, kann ich nicht begreifen, daß sein | |||||||
| Irthum sollte aus unedler Quelle hergekommen seyn: die unmittelbare | |||||||
| Quelle war nicht unedel; allein ich will ihn nun nicht deswegen ganz | |||||||
| vertheidigen und entschuldigen, wenn er durch Schwächen und Blößen | |||||||
| in den vorhergehenden Zeiten Anlaß dazu gegeben, daß er in eine | |||||||
| solche Seelen=Lage kam, daß dem innern Verhältniß seiner Empfindungen | |||||||
| nach, jener Entschluß, eine nothwendige Modifikation seiner | |||||||
| Seele wurde - aber o dies war eine series catena rerum ! Der | |||||||
| Grund hievon lag in seinem ganzen Geschik: Sie müßten die Geschichte | |||||||
| der Empfindungen und der Umstände des Ungenannten von seinem | |||||||
| 8ten Iahre an wißen - O wünschen Sie ihm mit mir, daß er nur | |||||||
| einige Iahre Ruhe izt genüßen möge, damit er alle seine geistigen | |||||||
| und moralischen Kräfte, die so lange Zeit durch ein Fieber herumgerißen | |||||||
| worden - daß sie sich oft mehr durch Konvulsionen, als | |||||||
| ordentliche Bewegungen des Lebens äußern können - zusammenfaßen, | |||||||
| ganz sich in seinem Innersten zusammenhalten könne, um seinem innern | |||||||
| und äußern Daseyn, eine gewiße Konsistenz zu geben: Wie kann ein | |||||||
| Embryo im Mutterleibe ganz ausgeboren werden, wenn die Natur | |||||||
| immer in ihren dahin arbeitenden Würkungen gestört wird? - Mögten | |||||||
| Sie doch ganz in die Seele des Ungenannten - mögten Sie doch | |||||||
| ganz in meine Seele lesen können, indem ich dieses hier niederschreibe! ! ! | |||||||
| So lange noch Leben und Kraft in einem Wesen ist, sucht es der | |||||||
| Zerstörung seiner Existenz entgegen zu arbeiten: ein Moralisches Wesen | |||||||
| muß schon der Verwesung nahe seyn, wenn es nicht mehr seiner Zerstörung | |||||||
| entgegen arbeitet: Sie wißen, in welchem nahen Verhältniß | |||||||
| ich mit dem Ungenannten stehe: wenn ich denn ia sollte partheiisch | |||||||
| in seiner Vertheidigung seyn, so glauben Sie, daß die Kräfte seiner | |||||||
| moralischen Existenz gewißermaßen im Aufruhr sind, um befürchteten | |||||||
| Zerstörungen entgegen zu arbeiten. - Der Ungenannte weiß fast von | |||||||
| keinen Freuden und Glückseeligkeiten des Lebens, nur diesen einzigen | |||||||
| Trost, diese einzige Nahrung seiner Seele wünscht er zu seiner unentbehrlichen | |||||||
| Erhaltung: die wahre Achtung einiger wenigen Edlen zu | |||||||
| genüßen: Seine Seele sucht sich aus ihrem excentrischen Lauf, in den | |||||||
| sie gewaltsam hingerißen wurde, in den rechten Kreislauf hinzuarbeiten | |||||||
| - - | |||||||
| Ich kehre zum Vorhergehenden zurük: Als der Ungenannte, durch | |||||||
| die ihm zugestoßene widrige Begebenheit, jenen Entschluß aus seiner | |||||||
| Seele riß, sich aber von der Person in der Hauptsache fälschlich beschuldigt | |||||||
| glaubte, so bediente er sich keiner unedlen Mittel, um die | |||||||
| Warheit herauszubringen; Zu diesem Behuf entdekte er sich einem | |||||||
| angesehenen Manne, der eine obrigkeitliche Würde bekleidete, und der | |||||||
| ihm selbst gefärlich werden konnte, wenn er nicht die rechten Wege | |||||||
| betreten - oder sonst unedle Absichten verrathen sollte. Wenn der | |||||||
| Ungenannte einen irgend verdekten bösen Willen in seinem Herzen gehabt, | |||||||
| so läßt sich dies sein Betragen gar nicht damit reimen, weil er | |||||||
| durch daßelbe, sich in seinen auszuführenden Absichten, selbst Zaum und | |||||||
| Gebiß anlegte: Nur ein höchst dummer Bösewicht, kann auf solche | |||||||
| Weise, seinen Plan anlegen. - Der Ungenannte ging also einen ganz | |||||||
| geraden offnen Weg, so wie jeder rechschaffne Mann, der keine böse | |||||||
| Vorsäzze im Schilde führt. Er ließ also durch eine gerichtliche Person, | |||||||
| jene Person vernehmen, ob sie bei ihrer Aussage beharre. Und als | |||||||
| sie es nun that, so bediente er sich auch in der Folge keiner unedlen | |||||||
| Mittel. Der Ungenannte both alle seine Kräfte auf, um die Person | |||||||
| befriedigen zu können, und gab ihr hernach alles, was ihm nur in | |||||||
| seiner Lage möglich war aufzubringen. Nur erst wie er alles dies in | |||||||
| Ordnung gebracht, dachte er auf seine Abreise von K. Und auch hiebei | |||||||
| ging er einen graden offnen Weg. Ia, er nahm den Wollentait, zum | |||||||
| Curator der Person; just eben den Menschen, der als Commissarius | |||||||
| unter den Befehlen jenes angesehenen Mannes stand: Hätte er irgend | |||||||
| böse Absichten gehabt, so würde er am wenigsten diesen Menschen hiezu | |||||||
| gewählt haben, weil dieser am ersten die schlimmen Absichten des Ungenannten | |||||||
| entdekken und vereiteln konnte u.s.w. | |||||||
| Hier habe ich alles gesagt, was mir eben in der Seele gegenwärtig | |||||||
| geworden ist, um das ganze Betragen des Ungenannten ins | |||||||
| rechte Licht sezzen zu können. Entscheiden Sie selbst, ob ich das zu | |||||||
| seiner Vertheidigung vorgebracht, was ich nach Ehre und Gewißen | |||||||
| konnte, um nicht niedrige Par=theiligkeit . . . . . . . | |||||||
| Laßen Ew. Wohlgeb. es sich nicht befremden, wenn Sie ein andres | |||||||
| Siegel auf diesem Briefe erblikken. Ich habe einen innigen, edlen | |||||||
| Herzensfreund in G., an den wende ich mich, und bitte ihn um den | |||||||
| Vorschuß des Geldes, da deßen schleunige Absendung nöthig ist. Ich | |||||||
| schikke ihm diesen Brief offen, wie auch Dero Brief an mich, damit | |||||||
| er meine gegenwärtige wahre Lage wiße, und einsehe, daß mich nur | |||||||
| eine höchste Nothwendigkeit dringen konnte, hierin zu seiner Freundschaft | |||||||
| meine Zuflucht zu nehmen. Dieser Freund ist einer der edelsten, | |||||||
| die der Himmel nur selten zur Wohlthat für die Menschen geboren | |||||||
| werden läßet: ich darf also nicht das geringste Bedenken tragen, ihm | |||||||
| den Inhalt dieser Briefe wißen zu laßen. | |||||||
| Mit kümmernden Herzen denke ich immer daran, daß ich noch nicht | |||||||
| im Stande bin, Ew. Wohlgeb. den mir gethanen Vorschuß zu ersezzen: | |||||||
| O möchte ich doch darüber in Ihrem Herzen gerechtfertigt seyn! Laßen | |||||||
| Sie mir nur noch eine kleine Weile Zeit, um daß ich mich etwas in | |||||||
| Positur sezzen kann. | |||||||
| Meine Kränklichkeit und langes AugenÜbel, wie auch andre verdrüßliche | |||||||
| Familien=Geschäfte, die aber nothwendig waren, haben mir | |||||||
| den größten Theil der Zeit von diesem Winter geraubt, ohne daß ich | |||||||
| darin so viel zu stande bringen können, als ich gedacht. Mein Wille | |||||||
| ist noch immer auf eine Universität zu gehen, ob nach Halle oder | |||||||
| Göttingen, weiß ich noch nicht; vor Göttingen scheue ich mich, wegen | |||||||
| der dortigen Verhältniße, da mir unsäglicher Verdruß bevorstehen | |||||||
| möchte. Nach Halle hätte ich am Meisten Lust, man hat es mir auch | |||||||
| aus Berlin her angerathen. Da aber starke Auslagen dazu gehören, | |||||||
| das akademische Leben anzu[t]reten, so muß ich vorizt noch für den | |||||||
| Buchladen arbeiten, um die etwa nöthige Summe zusammen zu haben. | |||||||
| Gegenwärtig arbeite ich über das alte Aegypten; meine Betrachtungen | |||||||
| darüber werden unter dem Titel: Memnonium , ans Licht treten. So | |||||||
| viel ich weiß, ist der Gang meiner Gedanken in dieser Schrift ganz | |||||||
| neu. der Göttinger Recensent sagt über meine leztere Schrift, daß sie | |||||||
| viele Paradoxen enthalte, diese dürfte auf die Art deren noch mehrere | |||||||
| enthalten: Mit HE Meiners werde ich, um seine ganz falsche Meinung | |||||||
| über Aegypten (:denn er gräcisirt und versteht gar nicht sich in den | |||||||
| wahren Orientalismus hineinzudenken:) zu widerlegen, auch noch manches | |||||||
| zu thun kriegen. Ich suche mir in dieser Schrift eine ganz neue Bahn | |||||||
| zu brechen. - Es sind schon häufig Anzeigen meiner Schriften erfolgt, | |||||||
| mit denen ich, so viel ich deren gelesen, noch möglich zufrieden bin, | |||||||
| die Göttinger aus genommen. | |||||||
| Ich stehe izt mit dem Statthalter von Dalberg in Erfurt im | |||||||
| Verhältniß; vor einigen Tagen erhielt ich aus Wien von ihm, ein sehr | |||||||
| verbindliches Schreiben: Vieler Kampf wird mir noch freilig bevorstehen: | |||||||
| wenn ich nur dabei Gesundheit des Leibes und Ruhe der Seele | |||||||
| behalte, so hoffe ich doch zu überwinden. Von Ihrem Herzen bin ich | |||||||
| überzeugt, daß Sie mir dies wünschen, und an meinem Schiksaal | |||||||
| Theil nehmen werden. - Von dem Prediger Villaume kommt diese | |||||||
| Ostern eine Schrift über das Übel heraus, dieser hat sich zum Gegner | |||||||
| meiner Theorie aufgeworfen; er hat mir seine weitläufigen Einwürfe | |||||||
| mitgetheilt, ich schrieb ihm, er möchte sie alle drukken laßen, indem | |||||||
| ich in der Folge, da ich diese Materie wieder von neuen bearbeiten | |||||||
| würde, darauf Rüksicht nehmen und dieselben beantworten dürfte: Mir | |||||||
| ist für diesen Einwürfen nicht sehr bange. Aber bestimmter werde ich | |||||||
| alsdenn meine Säzze ausführen. Was Ew. Wohlgeb. wegen eines | |||||||
| politischen Despotismuß fürchten, fürchte ich auch - aber auch von | |||||||
| der andern Seite her, deren ich schon neulig gedacht. Die Großen | |||||||
| sind von Schwärmerei angestekt - und die Iesuiten - - Zukünftigen | |||||||
| Monath werde ich, was alle dise Sachen betrift, viel neues erfahren, | |||||||
| indem ein ansehnlicher vornehmer Mann aus Berlin, der mein Freund | |||||||
| ist, hier durch reiset und sich einige Tage hier aufhalten wird: schriftlich | |||||||
| in Briefen getrauet man sich nicht viel zu schreiben. Eine gewiße | |||||||
| Macht, die so sehr viel zur Denkfreiheit beigetragen, ist izt sehr | |||||||
| im Druk. - | |||||||
| Mit der größten Verehrung bin ich | |||||||
| Ew. Wohlgeb. | |||||||
| den 3 April 84 | Gehorsamster Diener | ||||||
| [ abgedruckt in : AA X, Seite 374 ] [ Brief 227a ] [ Brief 229 ] [ Gesamtverzeichnis des Briefwechsels ] | |||||||