Kant: AA XX, Preisschrift über die ... , Seite 323 |
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Text (Kant):
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| 01 | gesagt, daß es in diesem Begriffe nicht mitgedacht werde, ob es gleich | ||||||
| 02 | nothwendig zu ihm hinzukommen muß. So ist z.B. der Satz: Eine jede | ||||||
| 03 | dreyseitige Figur ist dreiwinklicht (figura trilatera est triangula), ein | ||||||
| 04 | synthetischer Satz. Denn obgleich, wenn ich drey gerade Linien, als einen | ||||||
| 05 | Raum einschließend denke, es unmöglich ist, daß dadurch nicht zugleich | ||||||
| 06 | drey Winkel gemacht würden, so denke ich doch in jenem Begriffe des | ||||||
| 07 | Dreyseitigen gar nicht die Neigung dieser Seiten gegen einander, d.i. der | ||||||
| 08 | Begriff der Winkel wird in ihm wirklich nicht gedacht. | ||||||
| 09 | Alle analytische Urtheile sind Urtheile a priori und gelten also mit | ||||||
| 10 | strenger Allgemeinheit und absoluter Nothwendigkeit, weil sie sich gänzlich | ||||||
| 11 | auf den Satz des Widerspruchs gründen. Synthetische Urtheile können | ||||||
| 12 | aber auch Erfahrungsurtheile sein, welche uns zwar lehren, wie gewisse | ||||||
| 13 | Dinge beschaffen sind, niemals aber, daß sie nothwendig so seyn müssen | ||||||
| 14 | und nicht anders beschaffen seyn können: z.B. alle Körpernsind schwer; | ||||||
| 15 | da alsdenn ihre Allgemeinheit nur comparativ ist: Alle Körper, soviel | ||||||
| 16 | wir deren kennen, sind schwer, welche Allgemeinheit wir die empirische | ||||||
| 17 | zum Unterschiede der rationalen, welche, als a priori erkannt, eine stricte | ||||||
| 18 | Allgemeinheit ist, nennen könnten. Wenn es nun synthetische Sätze | ||||||
| 19 | a priori gäbe, so würden sie nicht auf dem Satze des Widerspruchs beruhen | ||||||
| 20 | und in Ansehung ihrer würde also die obbenannte, noch nie voher in ihrer | ||||||
| 21 | Allgemeinheit aufgeworfene, noch weniger aufgelösete Frage eintreten: | ||||||
| 22 | Wie sind synthetische Sätze a priori möglich? Daß es aber dergleichen | ||||||
| 23 | wirklich gebe, und die Vernunft nicht bloß dazu diene, schon erworbene | ||||||
| 24 | Begriffe analytisch zu erläutern (ein sehr nothwendiges Geschäft, um sich | ||||||
| 25 | zuerst selbst wohl zu verstehen), sondern daß sie sogar vermögend sey, ihren | ||||||
| 26 | Besitzt a priori synthetisch zu erweitern, und daß die Metaphysik zwar, | ||||||
| 27 | was die Mittel betrifft, deren sie sich bedient, auf den erstern, was aber | ||||||
| 28 | ihren Zweck anlangt, gänzlich auf den letztern beruhe, wird gegenwärtige | ||||||
| 29 | Abhandlung im Fortgange reichlich zeigen. Weil aber die Fortschritte, | ||||||
| 30 | welche die letztere gethan zu haben vorgiebt, noch bezweifelt werden | ||||||
| 31 | könnten, ob sie nämlich reell seyen oder nicht, so steht die reine Mathematik, | ||||||
| 32 | als ein koloß, zum Beweise der Realität durch alleinige reine | ||||||
| 33 | Vernunft erweiterter Erkenntniß da, trotzt den Angriffen des kühnsten | ||||||
| 34 | Zweiflers und, ob sie gleich zur Bewährung der Rechtmäßigkeit ihrer | ||||||
| 35 | Ansprüce ganz und gar keiner Kritik des reinen Vernunftvermögens selbst | ||||||
| 36 | bedarf, sondern sich durch ihr eignes Factum rechtfertigt, so giebt es doch | ||||||
| 37 | an ihr ein sicheres Beyspiel, um wenigstens die Realität der für die Metaphysik | ||||||
| 38 | höchstnöthigen Aufgabe: wie sind synthetische Sätze a priori | ||||||
| 39 | möglich? darzuthun. | ||||||
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