Kant: AA XII, Briefwechsel 1796 , Seite 081 |
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Text (Kant):
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| 01 | Ordnung zu schaffen belieben: dann, und dann allein vielleicht, dürfen | ||||||
| 02 | die Denker Theutschlands hoffen, ruhige, parteilose, unbefangene Prüfungen | ||||||
| 03 | ihren Thron wieder=einnehmen zu sehen, eine Prüfung, wie sie | ||||||
| 04 | allein der Wahrheit würdig ist. | ||||||
| 05 | Aber fern, fern sei alle Autorität aus dem Reiche der Vernunft! | ||||||
| 06 | fern - selbst die Autorität eines Kant! | ||||||
| 07 | Die Wahrheit ist ein Saat=korn, welches die Zeit allein pflegt | ||||||
| 08 | und zur Reife bringt: | ||||||
| 09 | Opinionum commenta delet dies: naturae judicia illustrat . | ||||||
| 10 | Cicero. | ||||||
| 11 | Glücklich der Denker, dessen commenta zugleich naturae judicia | ||||||
| 12 | sind! | ||||||
| 13 | Ein Wunsch an die Herrn Philosophen sei mir noch erlaubt: | ||||||
| 14 | nämlich der: zu prüfen, ob in diesem Werk eine gewisse Masse von | ||||||
| 15 | Denkkraft sichtbar ist; selbst da, wo ich, entweder blos nach ihrer | ||||||
| 16 | Meinung, oder auch wirklich, von der Wahrheit abzuirren scheine. | ||||||
| 17 | Ich wenigstens habe nur zu oft in vielen selbstgedachten Irrthümern | ||||||
| 18 | mehr Denkkraft gefunden, als in nachgebeteten Wahrheiten: | ||||||
| 19 | und ich gestehe daher auch aufrichtig, daß ich in gewissen, | ||||||
| 20 | selbst auf Mißverstand gegründeten, Einwürfen gegen das kritische | ||||||
| 21 | System mehr Aufwand von Scharfsinn entdeckt zu haben glaube, als | ||||||
| 22 | in gewissen Vertheidigungen desselben. | ||||||
| 23 | Aber Ein Wort des Tadels aus Ihrem Munde, innigst=geliebter | ||||||
| 24 | Lehrer, wird mich mehr demüthigen, als zehn herabwürdigende Recensionen; | ||||||
| 25 | so wie Ein Wort der Zufriedenheit aus demselben Munde | ||||||
| 26 | mich mehr ehren müßte, als jede Lobpreisung anderer. | ||||||
| 27 | Der Genius Teutschlands lasse den ersten Tiefdenker des Iahrhunderts | ||||||
| 28 | noch lange unter uns verweilen; und ihn die erstaunenswürdigen | ||||||
| 29 | Kräfte seines Geistes so ungeschwächt verherrlichen, als wir | ||||||
| 30 | sie ohnlängst nur noch in dem Werk ,,zum ewigen Frieden", und in | ||||||
| 31 | der Abhandlung "über das Organ der Seele" bewundert haben. | ||||||
| 32 | Noch einmal nähere ich mich, voll Ehrfurcht und Dankgefühl, | ||||||
| 33 | meinem und meines teutschen Vaterlandes großen Lehrer; und zeichne | ||||||
| 34 | mich (o daß ich dieses Nahmens immer würdig sein möchte!) | ||||||
| 35 | Berlin den 20. April | ||||||
| 36 | 1796. | Ihren | |||||
| 37 | immer=verpflichteten Schüler, | ||||||
| 38 | D. Ienisch. | ||||||
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