Kant: AA X, Briefwechsel 1786 , Seite 460 |
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Text (Kant):
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| 01 | gedacht u. alle wirkliche Erscheinungen wirklich erkannt werden müssen, | ||||||
| 02 | so können wir doch mit Gewißheit schliessen, daß wir nicht die letzten | ||||||
| 03 | Wesen sind, welche in Zeit u. Raum erkennen. Wir sehen, daß eine | ||||||
| 04 | noch weit größere u. ausgebreitetere Kentnis der Beziehungen möglich | ||||||
| 05 | sei; wir können also gewiß wissen, daß auch alle diese möglichen u. | ||||||
| 06 | wirklichen Beziehungen werden erkannt werden u. so dünkt mich können | ||||||
| 07 | wir mit unsern Ideen bis zu einem Wesen hinaufsteigen, welches alle | ||||||
| 08 | Beziehungen in Raum u. Zeit, alle Beziehungen der Objekte selbst | ||||||
| 09 | erkennt. Was hindert uns dieses Wesen für Gott anzunehmen, u. was | ||||||
| 10 | berechtigt uns eine höhere Idee zu suchen, als die, welche uns möglich | ||||||
| 11 | ist? - Nehmen wir die Beziehungen der Dinge weg, was können sie | ||||||
| 12 | alsdenn noch sein? Wenn jemand alle Beziehungen kennt, was will | ||||||
| 13 | er sonst noch wissen? Ist nicht zu fürchten, daß wir uns von einem | ||||||
| 14 | Schattenbilde, von einer blos übertriebnen Spekulation in unsrer Gewißheit | ||||||
| 15 | irre machen lassen? | ||||||
| 16 | "Unsre Gewisheit lieber M. steht nicht in unsrer Gewalt. Wo | ||||||
| 17 | uns nur noch ein Schattenbild irre machen kann, da haben wir noch | ||||||
| 18 | keine vollkomne Gewisheit. Haben Sie je gehört, daß ein Mathematiker | ||||||
| 19 | an seinen Lehrsätzen gezweifelt hat? haben Sie je gezweifelt, | ||||||
| 20 | daß Sie eine Hand einen Fuß besitzen? - Wenn wir uns überreden | ||||||
| 21 | wollen lieber M so haben wir Mittel gnug einen festen Glauben an | ||||||
| 22 | diejenigen Behauptungen zu bewirken, welche uns am meisten gefallen. | ||||||
| 23 | Aber wissen Sie nicht, daß wir alle Künste der Beredtsamkeit aus | ||||||
| 24 | diesen Vorlesungen verbannt haben? Wissen Sie nicht mehr, wie heilig | ||||||
| 25 | wir es uns vornahmen, uns von keinem Interesse, sollte es auch das | ||||||
| 26 | erlaubteste u. ehrwürdigste sein, leiten zu lassen? - Erinnern Sie | ||||||
| 27 | sich nicht, daß alle jene Philosophen, die mit so dringender Wärme uns | ||||||
| 28 | ihre Sätze anpriesen, sich durch die Güte ihres Herzens fortreissen | ||||||
| 29 | liessen u. ihren ersten Grundsätzen untreu wurden? - Ich fürchte, ich | ||||||
| 30 | fürchte, es geht auch Ihnen so, Sie scheuen sich vor einem Resultat, | ||||||
| 31 | das Sie nicht wünschen, u. die Wärme Ihres Herzens gebietet dem | ||||||
| 32 | Verstande Stillschweigen. Aber versuchen Sie es noch einmal sich in | ||||||
| 33 | das kalte Gleichgewicht der Vernunft zu setzen. Vielleicht fürchteten | ||||||
| 34 | Sie zu früh. Erinnern Sie sich, daß wir für die Wahrheit der reinen | ||||||
| 35 | Ideen kein andres Kriterium haben, als den Satz des Widerspruchs. | ||||||
| 36 | Nun war unser Schluß so: Wenn zwei sich wiedersprechende Ideen | ||||||
| 37 | mit gleicher Wahrheit gedacht werden können; so ist in dem Verstande | ||||||
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