Kant: AA X, Briefwechsel 1784 , Seite 384 |
|||||||
Zeile:
|
Text (Kant):
|
|
|
||||
| 01 | Trieb, so können Sie sich bei HE Brahl ohngefehr nach dem Geist | ||||||
| 02 | dieses Buchs erkundigen, wenn sich nehmlich eine Gelegenheit finden | ||||||
| 03 | sollte, wo Ew. Wohlgeb. es für bequem und gut finden sollten, eine | ||||||
| 04 | solche Erklärung gegen HE Brahl zu äußern. Ich gedenke hievon | ||||||
| 05 | gegen HE B. mit keinem Wort etwas, sondern es ist ein bloßer | ||||||
| 06 | augenbliklicher Einfall, den ich gegen Ew. Wohlgeb. vorbringe. | ||||||
| 07 | Ich sehe, ich werde sehr weitläufig, aber einem Manne wie mir, | ||||||
| 08 | dem sein Kopf so mitgenommen ist, kann es weniger verarget werden, | ||||||
| 09 | wenn er bei einem solchen Zustand, nicht immer im rechten Zusammenhang | ||||||
| 10 | denkt und schreibet. - Ich erlaube mir hier noch eine Bemerkung: | ||||||
| 11 | lange und harte Prüfungen des Schiksaals, die immer die | ||||||
| 12 | Seele erschüttert halten, können auch zuweilen den edelsten und rechtschaffensten | ||||||
| 13 | Mann so außer sich selbst sezzen, gewißermaßen konfu | ||||||
| 14 | machen, daß er sein System auf einige Zeit vergißt, und wie ein | ||||||
| 15 | Mensch handelt, der im Schlaf ist, oder im Rausch ist. Bei nur | ||||||
| 16 | Mittelmäßiger Unterstüzzung des Glüks, halte ich es für gar keine | ||||||
| 17 | Kunst, immer tugendhaft zu handeln: allein, wenn ein Mensch, sich | ||||||
| 18 | ganz immer vom Glük verlaßen sieht, immer Blößen geben muß, ohne | ||||||
| 19 | das Glük auf seiner Seite zu haben, sie mehr dekken zu können | ||||||
| 20 | ein solcher kann bisweilen durch die ihm wiederfahrnen gewaltsamen | ||||||
| 21 | Anstrengungen, in Verwirrungen gerathen, in denen er hernach für | ||||||
| 22 | sich selbst erschrekken muß. Einem anthaltenden Unglük, wird also selten | ||||||
| 23 | die beste Tugend so widerstehen können, daß sie nicht zu Zeiten, Blößen | ||||||
| 24 | geben sollte - - | ||||||
| 25 | Doch ich komme auf den Ungenannten zurük: Als jene für ihn | ||||||
| 26 | fatale Begebenheit zum Ausbruch kam, so war er der Ausführung jenes | ||||||
| 27 | vorhin gedachten Entschlußes nahe. Allein wie betrug sich nun hier | ||||||
| 28 | derselbe? Anstatt daß bei einem andern, der, durch wilde Grundsäzze | ||||||
| 29 | und Verdorbenheit seines moralischen Charakters, auf diesen Entschluß | ||||||
| 30 | gekommen, eine solche widrige Begebenheit, die Ausführung deßelben | ||||||
| 31 | würde beschleunigt haben, würkte sie bei dem Ungenannten das Gegentheil: | ||||||
| 32 | Nun verwarf er auf einmahl diesen Entschluß, suchte sich gewaltsam | ||||||
| 33 | aus seiner Seelen=Lage herauszukämpfen, um von izt einen | ||||||
| 34 | neuen Plan des Lebens zu verfolgen. Ich glaube, daß nur ein Mann | ||||||
| 35 | von Ehre und Gewißen so handeln kann, wie der Ungenannte diesem | ||||||
| 36 | Falle that: ich will hiebei garnicht von ihm behaupten, daß er in | ||||||
| 37 | seinen Grundsäzzen, die ihn vorhin zu diesem Entschluß vermochten, | ||||||
| [ Seite 383 ] [ Seite 385 ] [ Inhaltsverzeichnis ] |
|||||||