Kant: AA X, Briefwechsel 1774 , Seite 163 |
|||||||
Zeile:
|
Text (Kant):
|
|
|
||||
| 01 | Vergehungen eines Autors gegen sein eigene Grundsätze, wenn | ||||||
| 02 | selbige richtig u. fest, sind meines Erachtens Menschlichkeiten, bisweilen | ||||||
| 03 | Nothwendigkeiten, vielleicht gar Tugenden, falls er wie | ||||||
| 04 | jener zwar ungerechte doch kluge Haushalter damit zu wuchern weiß, | ||||||
| 05 | und können daher eben nicht gantz verdammlich seyn. | ||||||
| 06 | Ueberhaupt ist die Wahrheit von so abstracter und geistiger Natur, | ||||||
| 07 | das sie nicht anders als in abstracto, ihrem Element, gefast werden | ||||||
| 08 | kann. In concreto aber erscheint sie entweder als Wiederspruch oder | ||||||
| 09 | ist jener berühmte Stein unsrer Weisen, wodurch urplötzlich jedes unreife | ||||||
| 10 | Mineral und selbst Stein und Holtz in wahres Gold verwandelt | ||||||
| 11 | wird. | ||||||
| 12 | Was den zweiten Punct des vermeintlichen Beweises aus der | ||||||
| 13 | Correspondentz mit den Archiven der Völker betrifft: so gelingt es | ||||||
| 14 | vielleicht nur einem großen Newton Gesandschaften um den Erdball | ||||||
| 15 | zu einem Beweise seiner Vernunftgründe aufzuwiegeln, unter deßen | ||||||
| 16 | es dem armen Archimedes immer an einem Standort gefehlt die | ||||||
| 17 | Zeichen und Wunder seines Hebels sehn zu laßen. Ohne jenen | ||||||
| 18 | Katholischen Beweis aus der Einheit der VölkerStimmen und der | ||||||
| 19 | Identität unsers Fleisches und Bluts, ohne einen Dietrich zu den | ||||||
| 20 | Archiven lebender Wilden und zu den Reliquien bereits verklärter | ||||||
| 21 | Nationen, scheint es mir bey dem unverdächtigsten und reinsten Document | ||||||
| 22 | des Menschl. Geschlechts, das durch den wol= und wunderthätigen | ||||||
| 23 | Aberglauben eines ewigen Bündeljuden scheint erhalten worden zu | ||||||
| 24 | seyn, blos auf den einfachsten Gesichtspunct an [zu kommen], um gleich | ||||||
| 25 | seinem großen und unbekannten Urheber Hiob XXXVI. 26. zu seyn, | ||||||
| 26 | was es ist, und dafür von jedermännlich erkannt zu werden. | ||||||
| 27 | Unter allen Secten, die für Wege zur Glückseeligkeit, zum | ||||||
| 28 | Himmel und zur Gemeinschaft mit dem Ente Entium oder dem allein | ||||||
| 29 | weisen Encyklopädisten des Menschlichen Geschlechts ausgegeben worden, | ||||||
| 30 | wären wir die elendeste unter allen Menschen, wenn die Grundveste | ||||||
| 31 | unsers Glaubens in einem Triebsande kritischer ModeGelehrsamkeit | ||||||
| 32 | bestünde. Nein, die Theorie der wahren Religion bleibt nicht nur | ||||||
| 33 | jedem Menschenkinde angemeßen und ist in seine Seele gewebt oder | ||||||
| 34 | kann darinn wiederhergestellt werden, sondern bleibt auch eben so | ||||||
| 35 | unersteiglich den kühnsten Riesen und Himmelsstürmern als unergründlich | ||||||
| 36 | den tiefsinnigsten Grüblern und Bergleuten. | ||||||
| 37 | Ich werde daher auch bei wiederholter Lesung und Zergliederung | ||||||
| [ Seite 162 ] [ Seite 164 ] [ Inhaltsverzeichnis ] |
|||||||