Kant: AA X, Briefwechsel 1759 , Seite 029 |
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Text (Kant):
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| 01 | für Wahrheiten, und diese für jene an. Mit dieser umgekehrten | ||||||
| 02 | Denkungsart werden wir unmöglich zusammen fortkommen können. | ||||||
| 03 | Sie sind stoltz, Ihnen die Wahrheit zu sagen; ich nicht, oder ich muß | ||||||
| 04 | Ihnen so vorkommen. Mit W[eymann] mögen Sie umgehen, wie Sie | ||||||
| 05 | wollen; als ein Freund fordere ich eine andere Begegnung. Ihr Stillschweigen | ||||||
| 06 | in Ansehung seiner ist heimtückischer und verächtlicher, als | ||||||
| 07 | seine tumme Critick über Ihren Versuch. Sie begegnen mir auf | ||||||
| 08 | gl[eichen] Fuß; ich werde Sie aber dafür nicht ungestraft laßen. | ||||||
| 09 | Seine Einwürfe zu wiederlegen, ist Ihnen zu schlecht. Ein neuer | ||||||
| 10 | Beweiß, gegen den alle Einwürfe von selbst wegfallen, macht Ihnen | ||||||
| 11 | in Ihren Augen mehr Ehre. Sie haben auf meine Einwürfe nichts | ||||||
| 12 | geantwortet, und denken vielleicht auch auf einen neuen Plan. Der | ||||||
| 13 | Plan, auf den ich gehe, gehört mir nicht, sondern ist das Eigenthum | ||||||
| 14 | jedes Kindes, und hat Mose zum Urheber; deßen Ansehen ich beßer | ||||||
| 15 | im Nothfall vertheidigen will, als mein eigenes. | ||||||
| 16 | Wenn Sie ein Lehrer für Kinder seyn wollen; so müßen Sie ein | ||||||
| 17 | väterl[ich Herz gegen Sie haben, und dann werden Sie ohne roth zu] | ||||||
| 18 | werden auf das höltzerne Pferd der Mosaischen Mähre sich zu setzen wißen. | ||||||
| 19 | Was Ihnen ein holtzern Pferd vorkommt, ist vielleicht ein geflügeltes | ||||||
| 20 | - Ich sehe leider, daß Philosophen nicht beßer als Kinder sind, und | ||||||
| 21 | daß man sie eben so in ein Feenland führen muß, um sie klüger zu | ||||||
| 22 | machen; oder vielmehr aufmerksam zu erhalten. | ||||||
| 23 | Ich sage es Ihnen mit Verdruß, daß Sie meinen ersten Brief | ||||||
| 24 | nicht verstanden haben; und es muß doch wahr seyn, daß ich schwerer | ||||||
| 25 | schreibe, als ich es selbst weiß, und Sie mir zugeben wollen. Es | ||||||
| 26 | geht meinen Briefen nicht allein so, sondern mit dem platonischen | ||||||
| 27 | Gespräch über die Menschl. Natur kommen Sie auch nicht fort. Sie | ||||||
| 28 | saugen an Mücken und sch[l]ucken Kameele. | ||||||
| 29 | Steht nicht drin geschrieben und ist es nicht gründlich genung | ||||||
| 30 | bewiesen, daß keine Unwißenheit uns schadet; sondern bloß diejenige, | ||||||
| 31 | die wir für Erkenntnis halten. Ich setze noch hinzu, daß keine Unwißenheit | ||||||
| 32 | uns verdammen kann, als wenn wir Wahrheiten für Irrthümer | ||||||
| 33 | verwerfen und verabscheuen. Ist es Dir nicht gesagt; wird es denn | ||||||
| 34 | heißen; ja es ist mir gesagt, ich wollte es aber nicht glauben, oder | ||||||
| 35 | es kam mir abgeschmackt vor, oder ich hatte meine Lügen lieber. | ||||||
| 36 | Sehen Sie immer meine Parrhesie für den Frevel eines Homeromastyx | ||||||
| 37 | oder für eine cynische Unverschämtheit an. Sie sind Herr, | ||||||
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