| Kant: AA X, Briefwechsel 1759 , Seite 008 | |||||||
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| 01 | sind, und Ihren neuen Freund ganze Wochen genüßen, unterdeßen er | ||||||
| 02 | sich nur bey mir auf wenige zerstreute Stunden wie ein LuftErscheinung | ||||||
| 03 | oder vielmehr wie ein schlauer Kundschafter sich sehen läßt. | ||||||
| 04 | Ihrem Freunde aber werde ich diese Beleidigung nachtragen, daß er | ||||||
| 05 | sich unterstanden Sie in meine Einsiedlerey Selbst einzuführen; und | ||||||
| 06 | daß er mich nicht nur der Versuchung, Ihnen meine Empfindlichkeit, | ||||||
| 07 | Rache und Eyfersucht merken zu laßen, sondern Sie sogar dieser | ||||||
| 08 | Gefahr ausgesetzt, einem Menschen so nahe zu kommen, dem die | ||||||
| 09 | Krankheit seiner Leidenschaften eine Stärke zu denken und zu empfinden | ||||||
| 10 | giebt, die ein Gesunder nicht besitzt. - Dies wollte ich Ihrem | ||||||
| 11 | Buler ins Ohr sagen, als ich Ihnen für die Ehre Ihres ersten | ||||||
| 12 | Besuchs dankte. | ||||||
| 13 | Sind Sie Socrates und will Ihr Freund Alcibiades seyn: so | ||||||
| 14 | haben Sie zu Ihrem Unterricht die Stimme eines Genii nöthig. Und | ||||||
| 15 | diese Rolle gebührt mir, ohne daß ich mir den Verdacht des Stoltzes | ||||||
| 16 | dadurch zuziehe - Ein Schauspieler legt seine Königliche Maske, seinen Gang | ||||||
| 17 | und seine Sprache auf Steltzen ab; so bald er den Schauplatz verläst | ||||||
| 18 | - Erlauben Sie mir also, daß ich so lange Genius heißen und | ||||||
| 19 | als ein Genius aus einer Wolke mit Ihnen reden kann, als ich Zeit | ||||||
| 20 | zu diesem Briefe nöthig haben werde. Soll ich als ein Genius aber | ||||||
| 21 | reden, so bitte ich mir wenigstens die Gedult und die Aufmerksamkeit | ||||||
| 22 | aus, womit ein Erlauchtes, Schönes, Witziges und Gelehrtes Publicum | ||||||
| 23 | jüngst die Abschiedsrede eines Irrdischen über die Scherben einer alten | ||||||
| 24 | Urne, auf der man mit Mühe die Buchstaben BIBLIOTEK entziffern | ||||||
| 25 | konnte, überhorchte. Es war ein Project schöne Leiber denken zu | ||||||
| 26 | lehren. Das kann nur ein Socrates, und kein Herzog, keine Landstände | ||||||
| 27 | werden durch die Kraft Ihres obrigkeitl. Berufs und Vollmacht | ||||||
| 28 | ihrer Wahl einen Watson zum genie creiren. | ||||||
| 29 | Ich schreibe episch, weil Sie die lyrische Sprache noch nicht lesen | ||||||
| 30 | können. Ein epischer Autor ist ein Geschichtschreiber der seltenen | ||||||
| 31 | Geschöpfe und ihres noch seltenern Lebenslaufes; der lyrische ist der | ||||||
| 32 | Geschichtschreiber des Menschl. Herzens. Die Selbsterkenntnis ist die | ||||||
| 33 | schwerste und höchste, die leichteste und ecke[l]hafteste NaturGeschichte, | ||||||
| 34 | Philosophie und Poesie. Es ist angenehm und nützlich eine Seite des | ||||||
| 35 | Pope zu übersetzen - in die Fibern des Gehirnes und des Herzens | ||||||
| 36 | Eitelkeit und Fluch hingegen einen Theil der Encyclopedie durchzublättern. | ||||||
| 37 | Ich bin noch gestern Abend mit der Arbeit fertig geworden, | ||||||
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