Kant: AA VIII, Über ein vermeintes Recht ... , Seite 429 |
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| 01 | Pflicht der Wahrhaftigkeit (als von welcher hier allein die Rede ist) keinen | ||||||
| 02 | Unterschied zwischen Personen macht, gegen die man diese Pflicht haben, | ||||||
| 03 | oder gegen die man sich auch von ihr lossagen könne, sondern weil es | ||||||
| 04 | unbedingte Pflicht ist, die in allen Verhältnissen gilt. | ||||||
| 05 | Um nun von einer Metaphysik des Rechts (welche von allen Erfahrungsbedingungen | ||||||
| 06 | abstrahirt) zu einem Grundsatze der Politik | ||||||
| 07 | (welcher diese Begriffe auf Erfahrungsfälle anwendet) und vermittelst | ||||||
| 08 | dieses zur Auflösung einer Aufgabe der letzteren dem allgemeinen Rechtsprincip | ||||||
| 09 | gemäß zu gelangen: wird der Philosoph 1) ein Axiom, d. i. einen | ||||||
| 10 | apodiktisch gewissen Satz, der unmittelbar aus der Definition des äußern | ||||||
| 11 | Rechts (Zusammenstimmung der Freiheit eines jeden mit der Freiheit | ||||||
| 12 | von Jedermann nach einem allgemeinen Gesetze) hervorgeht, 2) ein Postulat | ||||||
| 13 | des äußeren öffentlichen Gesetzes, als vereinigten Willens Aller | ||||||
| 14 | nach dem Princip der Gleichheit, ohne welche keine Freiheit von Jedermann | ||||||
| 15 | Statt haben würde, 3) ein Problem geben, wie es anzustellen sei, | ||||||
| 16 | daß in einer noch so großen Gesellschaft dennoch Eintracht nach Principien | ||||||
| 17 | der Freiheit und Gleichheit erhalten werde (nämlich vermittelst eines repräsentativen | ||||||
| 18 | Systems); welches dann ein Grundsatz der Politik sein | ||||||
| 19 | wird, deren Veranstaltung und Anordnung nun Decrete enthalten wird, | ||||||
| 20 | die, aus der Erfahrungserkenntniß der Menschen gezogen, nur den Mechanism | ||||||
| 21 | der Rechtsverwaltung, und wie dieser zweckmäßig einzurichten | ||||||
| 22 | sei, beabsichtigen. - - Das Recht muß nie der Politik, wohl aber die | ||||||
| 23 | Politik jederzeit dem Recht angepaßt werden. | ||||||
| 24 | "Ein als wahr anerkannter (ich setze hinzu: a priori anerkannter, | ||||||
| 25 | mithin apodiktischer) Grundsatz muß niemals verlassen werden, wie anscheinend | ||||||
| 26 | auch Gefahr sich dabei befindet," sagt der Verfasser. Nur muß | ||||||
| 27 | man hier nicht die Gefahr (zufälligerweise) zu schaden, sondern überhaupt | ||||||
| 28 | Unrecht zu thun verstehen: welches geschehen würde, wenn ich | ||||||
| 29 | die Pflicht der Wahrhaftigkeit, die gänzlich unbedingt ist und in Aussagen | ||||||
| 30 | die oberste rechtliche Bedingung ausmacht, zu einer bedingten und noch | ||||||
| 31 | andern Rücksichten untergeordneten mache und, obgleich ich durch eine gewisse | ||||||
| 32 | Lüge in der That niemanden Unrecht thue, doch das Princip des | ||||||
| 33 | Rechts in Ansehung aller unumgänglich nothwendigen Aussagen überhaupt | ||||||
| 34 | verletze (formaliter, obgleich nicht materialiter, Unrecht thue): | ||||||
| 35 | welches viel schlimmer ist als gegen irgend jemanden eine Ungerechtigkeit | ||||||
| 36 | begehn, weil eine solche That nicht eben immer einen Grundsatz dazu im | ||||||
| 37 | Subjecte voraussetzt. | ||||||
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